Deutscher Gewerkschaftsbund:Der Feind zahlt gut

Die Delegierten des Deutschen Gewerkschaftsbundes sind entsetzt: Sie tagen in einem Hotel, für das es keinen Tarifvertrag gibt.

Detlef Esslinger, Berlin

Die Delegierten riefen Pfui, und die Tagungspräsidentin sagte hinterher, als alle klatschten: "Kerstin, du hast uns die Augen geöffnet." Drei Tage diskutierten die Delegierten des DGB-Bundeskongresses bereits, über Mindestlöhne und Industriepolitik - aber kein Thema regte sie so auf wie jenes, das ihre Kollegin Kerstin Meißner von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) nun aufbrachte: dass sie, die Delegierten des DGB, in einem Hotel tagen, in dem es keinen Tarifvertrag gibt. "Der nächste Bundeskongress darf keine Gewerkschaftsgelder für Gewerkschaftsfeinde ausgeben", sagte Meißner.

DGB, Hotel Estrel in Berlin, Foto: Estrel

DGB-Jahrestagung im Hotel Estrel in Berlin-Neukölln - und die Delegierten sind entsetzt.

(Foto: Foto: Estrel)

Bei dem Hotel handelt es sich ums Estrel im Stadtteil Neukölln; es ist ein Haus, das regelmäßig von Parteien und Großorganisationen gebucht wird - weil es einen 15000-Quadratmeter-Saal und 1100 Zimmer hat, so dass alle Teilnehmer dort untergebracht werden können. Warum also geht der DGB zum Feind: weil der in Berlin alternativlos ist? Die Antwort auf diese Frage führt zu einer weiteren, grundsätzlichen Frage: Sind Tarifverträge also bereits ein Wert an sich - oder kann es für die Beschäftigten auch von Vorteil sein, wenn es im Betrieb keine gibt?

Die NGG beklagt, dass das Estrel vor fünf Jahren entschieden hat, die Tarifbindung aufzugeben, dass es seinen Beschäftigten nicht mehr die 150 Euro für die Altersvorsorge zahlt, die der Tarifvertrag vorsieht, und die Arbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden erhöht hat; "das entspricht einer Lohnkürzung von 5,2 Prozent", wie die NGG-Delegierte Meißner auf dem Kongress sagte.

Wo ist das Problem?

Hoteldirektor Thomas Brückner bestreitet das alles gar nicht. Er fügt diesen Tatsachen aber ein paar weitere hinzu: Laut Tarif muss ein Hotelangestellter mindestens 7,50 Euro verdienen - im Estrel fängt man bei 9,36 Euro an, als Kellner im ersten Berufsjahr. Statt 150 Euro zahlt er 180 Euro Altersvorsorge, und zwar auch für die Auszubildenden, was der Tarifvertrag nicht verlangt. An Tarifverträge bindet er sich seit fünf Jahren nicht, weil es dem Hotel damals schlecht ging und er mit der 40-Stunden-Woche Kündigungen vermeiden wollte. Er gleicht das aus, indem er in Jahren mit Gewinn einen Bonus von mindestens 300 Euro zahlt, je nach Betriebszugehörigkeit. "In der Betriebsversammlung habe ich 100 Prozent Zustimmung bekommen", sagt Brückner.

Der Betriebsrat bestätigt die Angaben, der DGB auf Anfrage auch. Wo ist also das Problem? Gewerkschafter sind von Natur aus misstrauische Menschen. Petra Schwalbe, Vorsitzende des NGG-Landesbezirks Ost, sagt: "Ohne Tarifvertrag ist jede Leistung eines Arbeitgebers freiwillig." Für sie sind Tarifverträge ein Wert an sich - weil sie nicht nur 9,36 Euro, sondern auch den Rechtsanspruch darauf garantieren. Sie sagt: "Wir sollten mit unserem Kongress nur dorthin gehen, wo Tarifverträge gelten."

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