Christel Johannhörster kommt schon eine Stunde vor der Hauptversammlung mit dem Zug aus Düsseldorf am Bahnhof an. "Das hat mich so etwas von gereizt", schwärmt die Rentnerin: "endlich mal wieder nicht nur diese virtuellen Sachen!" Die Frau mit schwarzem Stoffbeutel und kurzen, grauen Haaren besitzt Aktien einiger Unternehmen an Rhein und Ruhr - und lässt sich den Besuch der Hauptversammlungen nicht nehmen. "Da erfahren Sie viel mehr, als Sie in der Presse lesen." Und mit einem Vorurteil räumt Johannhörster gleich mal auf: "Es geht mir nicht um den Kaffee oder um die Wurst."
So beginnt am Donnerstag eine Renaissance, die fast schon unwahrscheinlich schien: die des alten Aktionärstreffens. Manche Konzerne mögen ja ganz froh sein, dass sie das sogenannte Hochamt der Aktionärsdemokratie während der Corona-Pandemie ins Internet verlegen dürfen. Die Deutsche Telekom hingegen hat ihre - traditionell zahlreichen - Anteilseigner nun wieder in Präsenz nach Bonn geladen. Ausgerechnet, möchte man meinen, verdient die Telekom ihr Geld doch eigentlich damit, dass Menschen nicht von Angesicht zu Angesicht sprechen. Aber sei's drum.
Stattdessen strömen nun Hunderte Aktionäre durch die flughafenähnlichen Sicherheitsschleusen am Eingang. Manche, längst nicht alle, lassen ihre Maske auf, auch nachdem sie auf einem der grauen Stühle Platz genommen haben. Rolltreppen führen die Anteilseigner in den "Cateringbereich" hinunter, wo sie zur Mittagszeit zwischen Geschnetzeltem und Erbsensuppe wählen können. "Wir freuen uns alle, dass das eine reale Hauptversammlung ist", ruft Aufsichtsratschef Ulrich Lehner vor dem Plenum ins Mikrofon - und erntet den ersten Applaus des Tages.
Tatsächlich ist die Hauptversammlung ein hohes Organ jeder Aktiengesellschaft: Nur sie wählt Vertreter in den Aufsichtsrat, nur sie entscheidet final über die Dividende. Nichtsdestotrotz haben in den vergangenen Jahren tendenziell immer weniger Aktionäre an den Treffen vieler Unternehmen teilgenommen. In Zeiten von Kontaktbeschränkungen erlaubte der Bund den Firmen dann, Hauptversammlungen ins Internet zu verlagern. Einem Referenten-Entwurf des Bundesjustizministeriums zufolge soll das virtuelle Treffen nun eine feste Option im Aktiengesetz werden, auch nach der Pandemie. Die Teilnehmer der Hauptversammlung müssten freilich mehrheitlich dafür stimmen, die Veranstaltung dauerhaft ins Internet zu verlagern.
Virtuelle Versammlungen gelten als effizienter und einfacher für Investoren aus dem Ausland
Befürworter verweisen darauf, dass beispielsweise Investoren aus dem Ausland viel leichter an virtuellen Formaten teilnehmen können; manche Firmen melden höhere Teilnahme-Quoten als bei "echten" Treffen. Für alle Beteiligten sei der Aufwand geringer. "Unser virtuelles Format hat also viele Vorteile ohne relevante Nachteile", warb etwa Eon-Chef Leonhard Birnbaum in der jüngsten Hauptversammlung seines Energiekonzerns.
Andererseits bietet ein Treffen in Präsenz auch privaten Anlegern die Chance, dem Vorstand "live" die Meinung zu geigen, Fragen und auch Rückfragen zu stellen, die das Unternehmen wahrheitsgemäß beantworten muss. "Nach unserer festen Überzeugung ermöglicht nur die Präsenz-Hauptversammlung eine echte interaktive Debatte", sagt Frederik Beckendorff von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Aus deren Sicht stellen Aktionärstreffen allerdings auch eine ausgesprochen wichtige Bühne dar.
Eine echte Debatte entbrennt am Donnerstag vor allem darüber, ob der Noch-Vorstandschef der Deutschen Post, Frank Appel, nun gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender der Telekom werden sollte. "Zwei Spitzenposten sind einer zu viel", kritisiert etwa Henrik Pontzen von Union Investment, dem Fondshaus der Volks- und Raiffeisenbanken - wenngleich die Doppelbelastung nur vorübergehend sei: Appel will in gut einem Jahr den Chefposten bei der Post abgeben.
"Ich war sprachlos, als ich die Nominierung von Herrn Appel gesehen habe", moniert auch Ingo Speich von der Deka, der Fondsgesellschaft der Sparkassen. Zwar stelle man Appels Expertise nicht in Frage. "Doch bei Ihrer Terminplanung würde uns schon interessieren, wann Sie die Tätigkeit bei der Deutschen Telekom überhaupt ausüben wollen." Appel solle sich schnellstmöglich für ein Unternehmen entscheiden, so Speich. "Selbst für den besten Manager sind diese beiden Mandate zu viel."
Post-Chef Appel will Aufgaben abgeben, damit er genug Zeit für die Telekom hat
Appel legt am Donnerstag die sechs Gehminuten vom Post-Hochhaus zur Telekom-Hauptversammlung zurück, um für seine Wahl in den Aufsichtsrat zu werben. Er kenne sich etwa mit der Minderheitsbeteiligung aus, die der Bund sowohl noch an der Post als auch an der Telekom halte, sagt Appel. Auch bestimme in beiden Konzernen dieselbe Gewerkschaft, nämlich Verdi, mit. "Ich werde jetzt schon im Juli einen Teil meiner Verantwortlichkeit abgeben", verspricht Appel. So habe er genügend Zeit für die Telekom.
Der scheidende Aufsichtsratschef Lehner nimmt seinen Wunsch-Nachfolger ebenfalls in Schutz. "Verfügbare Kandidaten dieses Kalibers sind rar", sagt der 75-Jährige, der das Kontrollgremium 14 Jahre lang geleitet hat. "Wir sind froh, dass wir Herrn Appel gewinnen konnten." Tatsächlich wird Appel schließlich mit fast 84 Prozent der Stimmen in den Aufsichtsrat gewählt - wahrlich kein dolles, aber auch kein knappes Ergebnis. Am Donnerstagabend dann wird er vom Kontrollgremium zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt.
Am Ende dieses Tages voller Ausblicke auf besseren Handy-Empfang in der Bahn, auf den geplanten Teilverkauf der Mobilfunktürme, nach dem letzten Plunder-Teilchen und dem Kaffee aus dem Pappbecher bleibt vor allem: die Sehnsucht nach dem Wiedersehen. "Wir wünschen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat viel Erfolg", sagt Deka-Vertreter Speich, "und freuen uns auf eine Präsenzhauptversammlung im nächsten Jahr."
Christel Johannhörster hat schon bei der Ankunft geschaut, wann die Züge zurück nach Düsseldorf fahren. Ganz klassisch, auf dem Aushangfahrplan.