Zugfahren in Deutschland:Was für ein Bahn-Sinn

Central Japan Railway's Bullet Train Travels Past Mount Fu

Von Tokio nach Osaka verkehrt der japanische Shinkansen im Zehn-Minuten-Takt, zeitweise auch in Abständen von drei Minuten.

(Foto: Tomohiro Ohsumi/Bloomberg)
  • Die Deutsche Bahn verspricht seit Monaten, endlich zuverlässiger werden zu wollen.
  • Stattdessen stürzt die Pünktlichkeit der Fernzüge regelrecht ab: von 80 fiel sie auf 69,8 Prozent.
  • Ein Blick in die Schweiz und nach Japan zeigt: Es geht auch anders - und dazu noch günstiger oder sogar im Zehn-Minuten-Takt.

Von Markus Balser, Berlin, Christoph Neidhart, Tokio und Isabel Pfaff, Bern

Die Vorzüge der Bahn muss Josef Schönberger niemand erklären. Seit 60 Jahren reist der 80-Jährige gern mit dem Zug. Bis zu jener Nacht Ende Juni jedenfalls. Gut dreieinhalb Stunden zu spät, nach Mitternacht, erreichte Schönberger München. Der letzte Zug zum Ziel Simbach war weg. Zwei Stunden wartete er in der Schlange am Infostand, bis er eine barsche Abfuhr bekam: Die bezahlbaren Hotels in München seien ausgebucht, ein Taxi zum Ziel sei zu teuer. So steht es in der Beschwerde Schönbergers bei der Bahn. Doch die riet ihm: Einfach am Bahnhof auf den ersten Zug warten - Abfahrt: 6.07 Uhr. Weil Schönberger protestierte, holten Mitarbeiter die Polizei. Die brachte ihn schließlich in ein Hotel.

Typisch Bahn? Eigentlich hatte sich der Konzern für den Sommer viel vorgenommen. Erst im Juni stellte Vorstandschef Richard Lutz die neue Konzernstrategie vor und Erfolge bei der Pünktlichkeit in Aussicht. Doch neue Zahlen machen klar, dass die Probleme auch jenseits von Einzelfällen größer statt kleiner werden. Die Pünktlichkeit der Fernzüge stürzte regelrecht ab. Der ohnehin schwache Wert von 80 fiel auf 69,8 Prozent. Fast ein Drittel der Züge kam zu spät. Dabei legt die Bahn die Statistik schon eigenwillig aus. Gezählt werden Verspätungen erst ab 5.59 Minuten. Gern verweist der Konzern auf extreme Wetterlagen. Gewitter mit Starkregen, Hagel und zahlreiche Böschungsbrände hätten die Fernzüge im Juni ausgebremst.

Die Lage in Deutschland ist schwierig. Und so mancher wünscht sich Verhältnisse wie in der Schweiz oder in Japan. Doch nicht für alles ist die Deutsche Bahn (DB) selbst verantwortlich. Sie kämpft etwa mit einem viel zu alten Netz - manches Stellwerk stammt noch aus der Kaiserzeit. Weil der Konzern um Besserung bemüht ist und sein Netz an so vielen Stellen wie nie zuvor erneuert, wurden auch so viele Baustellen wie nie eingerichtet. Das bremst den Verkehr. Für raschen Wandel fehlt zudem das Geld. Hinzu kommen technische Probleme an den Wagen, aber auch hausgemachte wie Personalmangel in den Werkstätten. Aufsichtsräte hinterfragen längst, warum Deutschland sich seit Jahren im Vergleich zu anderen Bahnländern so schwertut. Und wirklich: Die Unterschiede sind gravierend.

Wenn etwa im Hauptbahnhof Bern ein verspäteter Zug einfährt, ist es fast immer ein deutscher ICE. "Pitoyabel" nannte die Neue Zürcher Zeitung neulich den Zustand der Deutschen Bahn - einfach bemitleidenswert. Wer allerdings das Zugfahren in der Schweiz kennengelernt hat, dürfte fast überall auf der Welt enttäuscht sein. Laut dem Global Competitiveness Report 2018 des Weltwirtschaftsforums, der auch die Effizienz des Bahnverkehrs eines Landes bewertet, liegt die Schweiz in punkto Eisenbahn auf Platz eins - gefolgt von Japan. Gut 93,1 Prozent der Schweizer Züge waren 2018 pünktlich, das heißt weniger als drei Minuten verspätet. Die Zuverlässigkeit zahlt sich aus. Täglich nutzen rund 1,25 Millionen Schweizer die Eisenbahn, bei einer Gesamtbevölkerung von 8,5 Millionen. In Deutschland sind es täglich gut sechs Millionen Passagiere bei 83 Millionen Bürgern.

Wer in der Schweiz lebt, braucht kein Auto, um von A nach B zu kommen

Das Bahnfahren ist in der Schweiz vergleichsweise preiswert. Spontan gekaufte Tickets ohne Rabattkarte sind zwar ähnlich teuer wie in Deutschland, allerdings ist eine 50-Prozent-Rabattkarte mit 185 Franken deutlich günstiger als die Bahncard 50 (255 Euro). Überfüllt sind die Züge nur selten. Wenn die SBB-App einen Zug als sehr voll anzeigt, ist er meist einfach gut ausgelastet. Und sollte er einmal tatsächlich zu voll sein, fährt sehr bald der nächste; zwischen größeren Städten mindestens alle halbe Stunde. Die Deutsche Bahn plant, einen solchen Takt erst bis 2030 einzurichten.

Die Schweizer Bahntickets berechtigen Fahrgäste zudem nicht nur zum Schienentransport. Sie können mit den Billetts auch einige Seilbahnen nehmen, zudem Schiffe und die berühmten Postbusse, die so gut wie jedes winzige Bergdorf anfahren. Wer in der Schweiz lebt, braucht vielleicht zum Einkaufen oder für den Möbeltransport ein Auto. Um von A nach B zu kommen, ist es schlicht nicht nötig. Und so gilt der kleine Nachbar in Deutschland immer wieder als Referenz. Auch in der Chefetage der Bahn wird regelmäßig die Frage gestellt: Wie schaffen die SBB das, die wie die DB ein 100-prozentiger Staatskonzern sind?

Die Antwort beginnt mit einem Blick auf die Karte. Denn das Netz der Schweiz ist mit einer Länge von 5250 Kilometern nur einen Bruchteil so groß, wie das 33 000 Kilometer lange in Deutschland. Verkehrsforscher aber wissen, dass Verspätungen auf der Schiene mit zunehmender Länge der Strecken immer wahrscheinlicher werden. Vor allem aber steckt die Schweiz mehr Geld in den Schienenverkehr. Laut einer Studie der Allianz pro Schiene, einem Verband zur Förderung des Schienenverkehrs in Deutschland, hat unter zehn ausgewählten europäischen Ländern kein Land mehr in seine Eisenbahn investiert: 378 Euro pro Kopf im Jahr 2016 - verglichen mit 64 Euro pro Einwohner in Deutschland. Auch deshalb steigen Schweizer häufiger in die Bahn und seltener ins Auto: 16,5 Prozent des gesamten Personenverkehrs entfällt in der Schweiz auf die Eisenbahn - verglichen mit 7,9 Prozent in Deutschland. Einzig beim Internet können die SBB nicht mithalten: Sie bieten kein Wlan an. Dafür in vielen Zügen einen leichteren Einstieg für Rollstühle und Kinderwagen oder den großen Kinderbereich mit Kletterburg und Rutsche.

Japanische Züge fahren in einer anderen Welt

Wer als Kunde noch pünktlicher ankommen will, muss noch weiter reisen. In einer anderen Welt fahren Züge in Japan. Auf der Tokaido-Linie etwa, wie die 515 Kilometer von Tokio nach Osaka heißen, verkehrt der Shinkansen im Zehnminutentakt, zeitweise auch in Abständen von drei Minuten. Täglich sind es 256 Züge. Obwohl Japan öfter von Taifunen heimgesucht wird und die Erde gelegentlich bebt, gelingt es dem Betreiber JR Central, die durchschnittliche Verspätung unter einer Minute zu halten. 2018 waren es 42 Sekunden, Unwetter- und erdbebenbedingte Verspätungen mitgerechnet. Und die Betreiber sorgen weiter vor. Der neue Shinkansen N700S wird als erster Highspeed-Zug der Welt mit Batterien bestückt. Wenn er von 2020 an zwischen Tokio und Osaka fährt, geht es auch bei Stromausfällen weiter. Falls das Netz kollabiert, fährt der Zug batteriebetrieben zum nächsten Bahnhof.

Allerdings gibt es zwischen dem japanischen und den beiden europäischen Netzen einen gravierenden Unterschied. Der wichtigste Vorteil des Shinkansen ist, dass er auf einer eigenen Trasse verkehrt, eingezäunt und meist erhöht. Er wird nie von Schranken, Güter- oder Regionalzügen gebremst. Zum wirtschaftlichen Erfolg der Bahnunternehmen Japans gehört es, dass sie den Wert ihres Grundbesitzes früh erkannten. Sie bauten schon vor Jahrzehnten Büro- und Kaufhaustürme über ihre Bahnhöfe. Der Tokaido-Shinkansen transportiert täglich etwa 465 000 Passagiere, in den 55 Jahren seit seiner Einführung 1964 zusammengezählt etwa sieben Milliarden. Allerdings ist Shinkansen-Fahren teuer. Es kostet etwa so viel wie in Deutschland ein Vollpreisticket erster Klasse, feste Ermäßigungen wie die Bahncard gibt es nicht, Spartickets nur vereinzelt, befristete Abos nur für ausländische Touristen.

Wegen Baustellen wird in Japan der Verkehr nicht gestoppt

Eine Fahrt im Vorortszug, besonders im Berufsverkehr, ist aber auch in Japan weniger angenehm als in Fernzügen. Einige Pendlerlinien, die von Nordosten nach Tokio hereinführen, sind am frühen Morgen zu 200 Prozent ausgelastet, zuweilen pressen Bahnbeamte die letzten Passagiere in die Wagen. Die Züge sind auch nicht ganz so pünktlich, werden aber stetig pünktlicher. Auch hier entschuldigt sich die Bahn für Verspätungen. Beträgt sie mehr als drei Minuten, teilt sie Bescheinigungen für den Arbeitgeber aus. Die Zettel liegen ausgefüllt an der Ticketschranke bereit.

Baustellen sind in Japan kein Verspätungsgrund. Vor einigen Jahren besuchten europäische Bahnmanager den S-Bahnhof Shimo-Kitazawa der Odakyu-Privatbahn im Westen Tokios. Dessen Bahnsteige wurden auf zwei Ebenen in den Untergrund verlegt. Ein Europäer fragte, wie lange Odakyu den Verkehr unterbrechen müsse. Und wie viele Züge während der übrigen Bauzeit ausfallen würden? Die Bahningenieure reagierten erstaunt. Keine. Der Betrieb von - in beiden Richtungen zusammen - mehr als 50 Zügen pro Stunde wurde mit provisorischen Bahnsteigen und behelfsmäßiger Linienführung aufrechterhalten. Alle heiklen Bauarbeiten, für die man den Verkehr hätte stoppen müssen, wurden nachts ausgeführt.

In Deutschland sind die Kunden genügsamer. Josef Schönberger etwa kam exakt 24 Stunden nach der Abfahrt in Düsseldorf in Simbach an. Von weiteren Stellwerks- und Signalstörungen im Regionalzug am nächsten Morgen ist in seiner Beschwerde noch die Rede. Und von erstaunlichem Gleichmut. Die Bahn, lässt Schönberger wissen, sei immer noch "erholsamer" als das Autofahren.

In einer früheren Version des Artikels ist uns bei den Preisen für die Schweizer Bahntickets leider ein Fehler unterlaufen. Ein Ticket Zürich-Genf kostet ohne Rabatt 88 Franken, nicht 35 Franken.

Zur SZ-Startseite
Richard Lutz

SZ PlusBahn-Chef Richard Lutz
:"Das ist ein Kampf um jede Minute"

Bahn-Chef Richard Lutz regiert ein Riesenreich: 320 000 Mitarbeiter, 40 000 Züge, 28 000 Busse in 130 Ländern. Ein Gespräch über Pünktlichkeit und die Folgen günstigerer Tickets.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: