Vor zehn Jahren war die Welt noch in Ordnung. Etwa die Hälfte aller Bahnkunden im Fernverkehr buchte sogenannte Flextickets, mit denen die Käufer sich spontan die Verbindung aussuchen konnten. Die andere Hälfte entschied sich für den Sparpreis mit Zugbindung. Die Kalkulation ging auf, die Angebote stützten einander.
Doch die Zeiten haben sich geändert. „Dieser unrabattierte Flexpreis, den nutzt kaum noch jemand“, sagt Stefanie Berk. Sie ist bei der Bahn-Tochter DB Fernverkehr für Marketing und Vertrieb zuständig. Eigentlich wollte sie am Donnerstag die frohe Botschaft verkünden, dass es im März „so viele günstige Tickets wie nie zuvor“ geben werde. Doch dabei legt sie ein Dilemma der Bahn offen, das noch größere Ausmaße erreicht hat, als bislang angenommen.
90 Prozent aller Reisenden in ICEs und ICs sind Berk zufolge mittlerweile mit vergünstigten Tickets unterwegs, sprich: Sie kaufen zum Sparpreis. „Kaum jemand fährt zum Normalpreis“, sagt sie, am ehesten noch Geschäftsreisende, die nach einem Termin flexibel einfach in einen Zug steigen wollen. Ansonsten sei Deutschland einfach „ein Land der Schnäppchenjäger“, sagt Berk.
Wer „time-rich und money-poor“ ist, fährt Regio
Hinzu kommt für DB Fernverkehr noch ein zweites Problem, nämlich das Deutschlandticket. Ganz offiziell habe man sich selbstverständlich über den Erfolg des Tickets gefreut, sagt Berk. „Aber man muss auch offen zugeben: Es gibt negative Effekte im Fernverkehr, und auf die müssen wir reagieren.“ So habe die Konzerntochter insbesondere auf Kurzstrecken – beispielsweise München–Nürnberg oder Hamburg–Bremen – enorm viele Kunden verloren. Wo Regionalzüge und ICEs oder ICs parallel fahren, nehmen viele Kunden offenbar längere Fahrtzeiten und weniger Komfort in Kauf, bezahlen dafür aber kein Geld, da sie das Deutschlandticket schon haben. Vorwiegend die junge Zielgruppe, „die time-rich und money-poor ist“, wie Berk sagt, steigt viel seltener in Fernverkehrszüge, wenn parallel ein Regio fährt.
Für die Bahn-Tochter DB Regio ist das ein Vorteil, sie verzeichnete im ersten Halbjahr 2024 sechs Prozent mehr Fahrgäste, 17 Prozent mehr Personenkilometer und 283 Millionen Euro mehr Umsatz. Allerdings sind viele Regionalzüge gnadenlos überlastet, auch jene der Wettbewerber. Für DB Fernverkehr ist es ein echtes Problem. Der Konzerntochter entgehen allein durch das Deutschlandticket jedes Jahr etwa zehn Millionen Euro Umsatz. „Bitter“ nannte Fernverkehrsvorstand Michael Peterson die Entwicklung kürzlich.
„Bei der Null passiert etwas im Kopf.“
Umso wichtiger sei es nun, gegenzusteuern. Die Strategie der Bahn: Wenn die Leute ohnehin so gut wie nur noch Sparpreis-Tickets kaufen, dann schmeißen wir doch noch mehr davon auf den Markt – auch um Menschen dazu zu bringen, vom Auto auf die Bahn umzusteigen. Eine Million zusätzliche Fahrscheine dieser Art will die DB allein im März anbieten, gültig für das gesamte Fahrplanjahr. Auf Kurzstrecken führt sie zudem wieder einen besonderen Schnäppchenpreis von 9,99 Euro ein. Mit Bahncard kostet der dann sogar nur 7,49 Euro. Um junge Menschen wieder in ICEs und ICs zu bringen, kommen im März täglich 30 000 sogenannte Super-Sparpreis-Young-Tickets für Bahnfahrer unter 26 Jahren hinzu.
Aber wird der Plan aufgehen, die Menschen so aus Autos und Regionalzügen zurück in die ICEs zu lotsen? „Natürlich ist der Mensch nicht immer nur sparmotiviert, es gibt auch andere Faktoren, die bei Kaufentscheidungen eine Rolle spielen können“, sagt der Wirtschaftspsychologe Christian Fichter. Im Fall von DB Fernverkehr etwa die schnellere Reisezeit oder höheren Komfort. Fakt sei jedoch: Eine gewisse Sparmotivation sei dem Menschen von Natur aus mitgegeben und die verlaufe nicht linear, sagt Fichter. „Bei der Null passiert etwas im Kopf. Da macht die mentale Buchführung einen Sprung.“ Daher sei es psychologisch extrem schwierig, gegen ein kostenloses Angebot – beziehungsweise ein Angebot, das die Kunden über das Deutschlandticket ohne zusätzliche Kosten nutzen können – anzukommen.
Die Bahn hofft dennoch, dank der Sparpreise höhere Auslastungen zu erreichen und Wachstum zu erzielen. „Natürlich soll das Ergebnis sein, einen besseren Umsatz zu machen“, sagt Berk. Das ist auch dringend nötig: Der gesamte Konzern befindet sich gerade am Beginn eines umfassenden Sanierungsprogramms, das den Namen „S3“ trägt. Bis Ende 2027 sollen nicht nur die Züge der Bahn wieder pünktlich ankommen, die einzelnen Geschäftsbereiche sollen auch Gewinn machen. Der Fernverkehr ist davon bislang weit entfernt. Erst zum Fahrplanwechsel haben sich dort die Preise um sechs Prozent erhöht – und nun läuft die Schnäppchenoffensive. Wie das zusammenpasst? Nun, sagt Berk, Umsatz sei immer ein Ergebnis von Menge mal Preis, und nun setze man eben auf die Menge. Die Züge würden ohnehin fahren – und dann doch lieber gut ausgelastet.