Deutsche Bahn:Mehdorns zwei Welten

Jeder meckert über die Bahn. Und doch hat sie einen eindrucksvollen Aufstieg hinter sich, um den die Deutschen beneidet werden. Mehdorn ist an diesem Widerspruch gescheitert.

Claus Hulverscheidt

Wenn es um die Bahn geht, dann werden aus 80 Millionen Bundesbürgern im Handumdrehen 80 Millionen Experten. Jeder kann eine Anekdote beisteuern, und selbst der, der in Wahrheit gar nicht Zug fährt, kennt einen, der eine kennt.

Deutsche Bahn

"Der Zug von Herrn Mehdorn ist abgefahren - zwar mit reichlich Verspätung, aber das sind wir ja gewohnt bei der Deutschen Bahn"

(Foto: Foto: dpa)

Von Vollbremsungen auf freier Strecke wird dann berichtet, von stundenlangem Warten, von Schaffnern, die Jugendliche ohne Fahrkarte in der Einöde vor die Tür setzen, von herabstürzenden Stahlträgern, vom Wahnwitz des Tarifsystems. Die Staatsfirma Bahn ist neben der Telekom der einzige Konzern, der selbst für Gespräche unterm Christbaum taugt, sie ist in jeder Hinsicht ein öffentliches Gut.

Es gibt eine zweite Wahrnehmung derselben Firma, eine, die aus endlosen Zahlenkolonnen besteht und die weit weniger stammtischtauglich ist als Version eins. Sie erzählt vom Aufstieg einer miefigen Transportbehörde zu einem Logistikkonzern von Weltrang, sie erzählt von schnellen, sauberen und meist pünktlichen Zügen, um die uns Amerikaner, Briten und Franzosen beneiden, von gläsernen Bahnhöfen und modernster Technik.

Nachtreten - wie immer

Sie erzählt von Milliardengewinnen, von Fahrgastrekorden, von Börsenplänen. Und sie erzählt von einem Mann, der all dies möglich gemacht hat: Hartmut Mehdorn - jenem Mehdorn, der am Montag zurücktrat. Nicht weil die Zahlen nicht gestimmt hätten, sondern weil es ihm in neun Jahren im Amt nie gelungen ist, die beiden so unterschiedlichen Bahn-Welten miteinander zu versöhnen.

Einige der 80 Millionen Experten meldeten sich gleich nach seiner Ankündigung zu Wort, meist um in erwähnter Manier nachzutreten. So Grünen-Chefin Claudia Roth, die tatsächlich kund tat: "Der Zug von Herrn Mehdorn ist abgefahren - zwar mit reichlich Verspätung, aber das sind wir ja gewohnt bei der Deutschen Bahn."

Ihr würde man wünschen, dass sie tatsächlich bald einmal mit dem ICE Jutta Ditfurth auf freier Strecke liegenbleibt. Andere schwiegen zunächst, darunter der irrlichternde Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee, der den Börsengang der Bahn jahrelang als das "größte verkehrspolitische Projekt dieser Koalition" feierte, um ihn dann in einem Nebensatz abzusagen.

Die Hauptschuld an dem Rücktritt trifft allerdings ohne Zweifel Mehdorn selbst. So sehr ihm seine hemdsärmelige Art half, den Behördenmief bei der Bahn zu vertreiben, so sehr stand sie ihm im Weg, wenn diplomatisches Geschick gefragt war.

Mit jedem Schritt, den Mehdorn seinem Traumziel von der Börsennotierung näher kam, benahm er sich mehr wie der Fahrer einer Planierraupe, der die Trasse in Richtung Frankfurt freizuräumen hat. Wer dabei nicht für ihn war, war gegen ihn. Die Namen von Kritikern wurden in Schubladen gesteckt, auf denen wahlweise "dumm" oder "renitent" stand. Am Ende sah der Bahn-Chef hinter jedem Busch einen Feind.

Das ist der eigentliche Grund dafür, warum Mehdorn die Gefahr verkannte, welche die wiederholten konzerninternen Datenaffären für ihn persönlich bargen. Nicht, dass er kein rechtschaffener Demokrat wäre.

Börsengang als Selbstzweck

In der Abwägung aber - Bespitzelung der Beschäftigten auf der einen Seite, Korruption, Informationsabfluss und üble Nachrede auf der anderen - hält er den Vertrauensbruch gegenüber den Mitarbeitern offenkundig bis heute für das geringere Übel. Er scheiterte somit nicht an den Affären selbst, er scheiterte daran, dass er die Vorgänge in seinem Hause gar nicht für Affären hielt.

Vor allem aber erhält Mehdorn nun die Quittung dafür, dass der Börsengang für ihn über die Jahre zum Selbstzweck wurde. Er übersah, dass sich seine eigenen Erfolgskoordinaten immer weiter von denen der einfachen Bürger entfernten.

Er ignorierte, dass die meisten Menschen in einem Eisenbahnunternehmen bis heute weniger einen erfolgreichen Dax-Konzern sehen als vielmehr einen Dienstleister, der auch Landbewohner und sozial Schwache gefälligst zu vernünftigen Preisen von einem Ort zum anderen zu befördern hat. Die wenigen Politiker, die sich bemühten zu erklären, warum ein börsennotiertes Unternehmen diese Aufgabe am besten erfüllen könne, scheiterten weitgehend. Mehdorn aber versuchte es nicht einmal ernsthaft.

Es wäre wohl naiv, würde man die Politik jetzt auffordern, die Berufung eines neuen Konzernchefs mit einer Grundsatzdebatte über die Zukunft des Unternehmens zu verbinden.

Muss die Bahn wirklich in den USA und China aktiv sein, oder sollte sich ein schienengebundenes Verkehrsmittel vielleicht doch auf den Heimatkontinent beschränken? Wie sähe ein Markt aus, auf dem wirklich Wettbewerb herrschte, und welche Rolle käme der Deutschen Bahn dabei zu? Und was ist eigentlich die Aufgabe des Staats? Die des Alleinunterhalters, des Mitspielers oder doch nur die des Regulierers?

Als ebenso naiv wird sich allerdings die Hoffnung mancher Politiker erweisen, dass jemand wie Mehdorn einfach so zu ersetzen ist. Trotz seiner Fehler würde es selbst in normalen Zeiten schwierig, einen positiv Verrückten wie den 66-Jährigen zu finden, jemanden, der nicht nur wie ein Manager handelt, sondern obendrein wie ein Politiker denkt. Sechs Monate vor der Bundestagswahl, dazu in einer Wirtschaftskrise, die auch die Bahn zunehmend trifft, dürfte das Unterfangen beinahe aussichtslos sein.

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