Verkehrswende:"Ich leide wie ein Hund"

Richard Lutz, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn

Ärgert sich selbst über verspätete Züge: Deutsche-Bahn-Chef Richard Lutz auf dem SZ-Nachhaltigkeitsgipfel.

(Foto: Alessandra Schellnegger/Alessandra Schellnegger)

Reisen, ohne der Umwelt zu schaden? Die Züge der Deutschen Bahn wären die ideale Fortbewegung. Sind sie aber noch nicht, das sieht auch Bahn-Chef Lutz.

Von Markus Balser und Max Hägler

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Wie weit der Verkehrssektor beim Klimaschutz schon gekommen ist? Bahn-Chef Richard Lutz hat an diesem Morgen trotz mancher Lichtblicke eine ernüchternde Antwort. Zwar hätte sich in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich einiges getan: Die Bahn etwa habe durch Grünstrom 60 Prozent der Emissionen eingespart. Und in der Großstadt gebe es immer mehr Menschen, die wie er unterwegs seien: Vor zwei Jahren habe er sein Auto verkauft, sagt Lutz, privat fahre er nur noch mit der Bahn und seinen zwei Fahrrädern.

Aber wenn man sich den gesamten Verkehr in Deutschland so ansehe, sagt Lutz, dann habe sich seit 1990 praktisch nichts verbessert beim Klimaschutz. Die Emissionen seien heute so hoch wie vor 30 Jahren. Denn was die Bahn eingespart hat, machte der wachsende Straßenverkehr wieder wett. Es ist ein Nullsummenspiel, das an diesem Tag beim Nachhaltigkeitsgipfel der Süddeutschen Zeitung etliche Teilnehmer beklagen. "Ein Weiter-so reicht nicht", sagt Lutz, der in diesem Fall über das eigene Verkehrsmittel hinausdenkt. "Wir müssen vieles fundamental anders machen."

Tatsächlich hat die Europäische Kommission in der Nacht zum Mittwoch eine radikale Wende beschlossen. Wenige Stunden vor der Nachhaltigkeitsdebatte in München hatten die Umweltminister der EU-Mitgliedsstaaten besiegelt, ab 2035 faktisch keine neuen fossilen Verbrennerautos mehr auf Europas Straßen zuzulassen. Der Beschluss des Gipfels in Luxemburg - es ist das dritte EU-Gremium, das in dieser Sache entschieden hat - macht deutlich, wie sehr die Politik die Unternehmen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger mit immer strengeren Klimazielen vor sich hertreibt.

Die Frage ist, wie Europa, wie Deutschland da mithalten können. Denn die sogenannte Antriebswende allein, also der Wechsel von Benzin und Diesel auf Elektro, wird nicht ausreichen, damit Mobilität künftig nachhaltig wird. Tatsächlich braucht es eine Verkehrswende, die alle Verkehrsmittel berücksichtigt: Autos, Lastwagen, Fahrräder, Busse, Flugzeuge und die Bahn, ob als ICE oder Regionalexpress.

Normal noch immer: Eine Person fährt ein tonnenschweres Auto

Beim Autobauer BMW denken sie schon so modern, zumindest in der Tochterfirma iVentures: "Wir schauen auf Mobilität, nicht nur aufs Auto", sagt Inga Grieger. Mittels der Firma versucht BMW, mit vielversprechenden Start-ups in Kontakt zu kommen, und zwar nicht nur mit jenen, die mit dem Auto direkt zu tun haben: 300 Millionen Euro groß ist etwa der gerade aufgelegte Fonds für Start-ups mit nachhaltigen Geschäftsideen, etwa zu möglichst umweltfreundlicher Rohstoffgewinnung.

Das Ziel müsse sein, dass sich der individuelle Verkehr mehr in Massenverkehrsmittel verlagere, sagt auf dem SZ-Gipfel die Verkehrsexpertin Sophia Becker, die gerade als Vizepräsidentin an der TU Berlin berufen worden ist, zuständig vor allem für "Nachhaltigkeit". Denn egal wie autonom oder elektrisch ein Fahrzeug unterwegs sei: Eine 80-Kilogramm-Person in einem Zwei-Tonnen-Fahrzeug, das sei nicht ideal, zumal nicht in den Großstädten.

Die Nachfrage für einen Umstieg sei einerseits da, sagt Becker, das zeigten 16 Millionen Neun-Euro-Tickets, eine "supereinfache" Maßnahme zum Klimaschutz. Doch um langfristig etwas zu verändern, sei eine wirkliche "Disruption" nötig, eine stärkere Abkehr vom Autoverkehr, eine "klimafreundliche Verkehrspolitik" - aber "das traut sich die Politik noch nicht". Ihre Beispiele: In der Straßenverkehrsordnung etwa werde weiterhin sehr einseitig auf den Fluss des Autoverkehrs Wert gelegt, und im Bundesverkehrswegeplan gehe es vor allem um den Ausbau der Autobahnen. Die "Beharrungskräfte" der automobilen Fortbewegung seien enorm, und sie würden sich weiterhin durchsetzen: Der von der Regierung angesichts gestiegener Spritpreise eingeführte pauschale Tankrabatt sei "völlig kontraproduktiv", um Menschen zum Umdenken zu bewegen. Solch eine Subvention "suggeriert den Bürgern: Der Staat wird es schon richten", sagt Becker. Dabei könne der diese gravierenden Herausforderungen auf Dauer nicht richten. Und der Wandel dauere zu lange, etwa hin zu den Elektroautos.

Verkehrswende: Hält pauschale Tankrabatte für völlig kontraproduktiv: Sophia Becker, Vizepräsidentin der Technischen Universität Berlin. (re.: Inga Grieger BMW iVentures).

Hält pauschale Tankrabatte für völlig kontraproduktiv: Sophia Becker, Vizepräsidentin der Technischen Universität Berlin. (re.: Inga Grieger BMW iVentures).

(Foto: Alessandra Schellnegger/Alessandra Schellnegger)

Es brauche Verhaltensänderungen, um das Klima zu schützen und um Energie zu sparen, sagt die Vizepräsidentin, die einst Psychologie studiert hat. Keine einfache Sache, warnt Valentina Daiber, Vorstandsfrau beim Telekommunikationskonzern O2/Telefonica, denn der Mensch handle nicht immer vernünftig. Ihr Beispiel: Schon seit Jahren böten alle Netzbetreiber Handy-Recycling an - nicht unwichtig angesichts des zunehmenden Rohstoffmangels. Doch die Zahl der zurückgegebenen Geräte sei "überschaubar". Ein Mobilfunkbetreiber auf einem Forum zu Nachhaltigkeit und Verkehr? Ja, das ergibt Sinn, sagt Daiber: Zum einen braucht es die vernetzte Digitalisierung, um Verkehr künftig zu steuern. Zum anderen sind manche neue Technologien tatsächlich umweltschonender: Das Funken per 5G-Mobilfunkstandard etwa benötige 90 Prozent weniger Energie.

Doch auch bei der Digitalisierung hakt es, klagt Daiber. Zwei Jahre dauert die Genehmigung für einen neuen Sendemast. Deutschland müsse endlich mal in den Machermodus kommen, sich deregulieren. Ihr konkreter Vorschlag: so arbeiten, wie es Tesla in Grünheide gemacht hat. Die E-Auto-Firma hatte ihre Fabrik dort mit Vorabgenehmigungen auf eigenes Risiko gebaut.

Die Bahn-Anlagen sind alt, zu alt

Schneller vorankommen muss auch die Bahn. Vor allem die veraltete und nicht mit den Bedürfnissen mitgewachsene Verkehrsinfrastruktur bremse den Wandel massiv, sagt Bahn-Chef Lutz. "Wenn unsere Anlagen Menschen wären, ist klar: Unsere Infrastruktur besteht zu 20 Prozent aus Rentnern", klagt Lutz. "Die sind auch fit. Aber das geht nicht auf Dauer gut." Noch immer sind Gleisanlagen aus der Kaiserzeit im Einsatz - und irgendwann tragen die ihre Last nicht mehr ordentlich. Die Bahn muss derzeit jedenfalls mit so vielen Baustellen wie noch nie die Gleisanlagen sanieren.

Das aber bremst den Verkehr, führt zu Zugausfällen und Verspätungen. Und es quält nicht nur die normalen Passagiere, sondern auch den Konzernchef. "Glauben Sie mir: Ich leide wie ein Hund", sagt Lutz. Die Bahn versuche, auf einem überlasteten Schienennetz so viele Menschen wie möglich mit zusätzlichen Zügen zu transportieren. Auf vielen Verbindungen kämen Passagiere dann wahrscheinlich nicht pünktlich an. Aber er wolle wenigstens erreichen, "dass sie ankommen", sagt Lutz. Ein Zwiespalt, unter dem die Beschäftigten der ganzen Branche litten: Mehr Pünktlichkeit sei nur möglich, wenn weniger Züge unterwegs wären, aber dann würden auch weniger Passagiere und Güter transportiert werden.

"Die Qualität und Zuverlässigkeit des Eisenbahnsystems ist nicht akzeptabel", gibt Lutz zu. Mehr als jeder dritte Fernzug kam im Mai zu spät - so schlecht war die Quote seit zwölf Jahren nicht mehr. Auch Regionalzüge verspäten sich derzeit immer häufiger, was der großen Idee von einer Verkehrswende weiter schadet.

Ein rasches Ende der Probleme ist dabei nicht in Sicht: Erst von 2024 an will der Konzern die Haupttrassen generalsanieren. Das hatte Lutz kürzlich zusammen mit Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) angekündigt. Bis dahin sollen erst mal Kurzfrist-Maßnahmen wie eine bessere Baustellenplanung und kürzere Umleitungstrassen für Züge helfen. Der Baubeginn ist übrigens nicht gleichbedeutend mit dem Ende des Leidens: Die Sanierungsarbeiten werden sich viele Jahre ziehen: Erst im Jahr 2030 werde die Bahn ein fertig saniertes Hochleistungsnetz haben, so haben es Wissing und Lutz versprochen.

Doch selbst gute Gleise und pünktliche Züge allein reichen noch nicht, um mehr Menschen zum Umstieg auf die Bahn zu bewegen, das habe man inzwischen eingesehen, sagt Lutz. Auch die Bahnhöfe müssten ansehnlicher werden - und zu "Mobilitätsplattformen" werden, mit Fahrradparkhäusern und Ladestationen für Elektroautos. Dieses ganzheitliche Denken habe man bislang schlicht vergessen, gesteht Lutz. Und trotz der daraus resultierenden Probleme bleibt der Bahn-Chef dem eigenen Unternehmen treu. "Wir machen an der Ostsee Urlaub", sagt Lutz. "Da brauche ich kein Auto."

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