ICE-4:Der neue Stolz der Bahn und seine Macken

Der ICE 4 - das neue Rückgrat des Fernverkehrs der Deutschen Bahn (DB) / The ICE 4 - the new backbone of Deutsche BahnâÄÖs long-distance network

Der neue ICE 4 - intern nennen sie ihn "Angelina Jolie".

(Foto: Siemens AG)

Siemens entwickelt für die Deutsche Bahn den neuen ICE 4. Schon im Dezember soll der reguläre Betrieb starten. Bis dahin müssen noch viele Details geändert werden.

Reportage von Caspar Busse

Sifa, Sifa", ruft plötzlich eine Stimme über den Lautsprecher. Zwei Sekunden zuvor hatte bereits eine gelbe Lampe auf dem Armaturenbrett ganz vorne im Führerstand des ICE hektisch zu blinken begonnen, jetzt die eindringliche Warnung der Computerstimme. Knapp drei Sekunden später geht ein Ruck durch den mehr als 500 Tonnen schweren ICE, er bremst stark ab, wenn auch nicht mit quietschenden Reifen, und wird schnell langsamer. Dann steht er. Eine Zwangsbremsung.

"Sifa" steht für Sicherheitsfahrschaltung. Der Triebfahrzeugführer - so heißt heute der Lokomotiv-Fahrer oder die -Fahrerin eines ICE - muss während der gesamten Fahrt ein Pedal treten und dieses spätestens alle 30 Sekunden kurz loslassen. So soll gewährleistet sein, dass die Frau oder der Mann vorne im Zug immer präsent und handlungsfähig ist. Sonst kommt sofort die Warnung "Sifa", und dann wird automatisch gebremst.

Diesmal bleibt der außerplanmäßige Halt des ICE ohne Folgen: Der Zug ist an diesem Frühlingstag auf einer einsamen Strecke im flachen Land nahe der niederländischen Grenze unterwegs. Hier geht es immer nur im Kreis, auf dem 6,1 Kilometer langen Schienenring des Prüf- und Validationscenters von Siemens in Wegberg-Wildenrath, kurz PCW, werden Züge getestet. Ein ICE 4 kann hier bis auf 160 Stunden-Kilometer beschleunigen. Vorne im Cockpit sitzen Testfahrer, daneben Mitarbeiter der Bahn und von Siemens mit ihren Laptops, sie testen Runde für Runde alle Funktionen, arbeiten lange To-do-Listen ab.

Es ist der bislang größte Auftrag der Deutschen Bahn, einer der wichtigsten Industrieorders überhaupt. Für insgesamt 5,3 Milliarden Euro hat die Bahn bei Siemens 130 ICE-Züge mit 1335 Waggons bestellt. Dazu gibt es eine Option auf weitere 170 Züge mit noch mehr Waggons. Die letzte der dann insgesamt 300 Einheiten könnte im Jahr 2030 ausgeliefert werden. Sie sollen die alten ICE der ersten und zweiten Generation ersetzen und die noch älteren IC-Züge, die schon Jahrzehnte in Deutschland unterwegs sind.

50 Millionen neue Kunden will die Bahn bis 2030 gewinnen, 70 Prozent des Fernverkehrs soll dann mit dem ICE 4 erfolgen. Irgendwann, so der Plan der Deutschen Bahn, sollen die wichtigsten deutschen Städte im Stundentakt miteinander verbunden werden. Schon in wenigen Monaten, zum Fahrplanwechsel im Dezember 2017, soll der sogenannte "Regelbetrieb" des ICE 4 aufgenommen werden, von Hamburg nach München und Stuttgart, danach wird der neue Zug schrittweise im gesamten Bahnnetz eingeführt.

Krings spricht über den ICE wie über einen Hund, mit dem er Gassi geht

Der ICE 4 ist auch der ganze Stolz von Michael Krings. Der bullige und hochgewachsene Mann in der leuchtend gelben Warnweste arbeitet im Testzentrum in Wegberg-Wildenrath, etwa 25 Kilometer westlich von Mönchengladbach, schon seit 16 Jahren. Sein Titel: Inbetriebsetzungsleiter. Krings läuft in Halle 2 an einem ganz neuen ICE 4 entlang, der auf Pfeilern steht, so dass man auch unter dem Zug arbeiten kann. Krings mustert jedes Detail, dann sagt er: "Wir waren mit ihm heute schon mal erfolgreich draußen." Es klingt liebevoll, als ob er von seinem Hund sprechen würde, mit dem er mal kurz Gassi geht.

Dabei geht es um ein fast 350 Meter langes Monstrum aus Stahl, ein wichtiges Prestigeprojekt für Siemens und die Deutsche Bahn. Vor zehn Jahren begannen die Verhandlungen, sieben Interessenten gab es für den Megaauftrag - am Ende erhielt Siemens mit seinem Partner Bombardier den Zuschlag, der französische Konkurrent Alstom hatte das Nachsehen.

Zusammen mit Krings läuft Ulrich Höbel durch den fast fertigen ICE. Höbel ist der zuständige Projektmanager bei der Deutschen Bahn, er ist aus der Zentrale in Berlin nach Wegberg-Wildenrath gekommen, um den Fortgang der Entwicklungen zu überprüfen. "Die Klimaanlagen haben wir stärker gemacht", sagt er. "Die sind jetzt für bis zu 45 Grad geeignet, das ist eigentlich der Standard für Südeuropa", berichtet er stolz, während er in einem der Waggons stehen bleibt. Er weiß wovon er spricht, denn gerade die Klimaanlagen haben in den alten ICE-Zügen immer wieder für Ärger gesorgt: Im Sommer fielen sie oft aus, es war glühend heiß, im Winter versagte die Heizung. Jetzt ist die Anlage nicht nur leistungsfähiger, sie hat auch zwei unabhängige Kreisläufe, sicher ist sicher. Höbel ist zufrieden.

Dann zeigt er auf die dunkelblauen Sitzlehnen in der zweiten Klasse: "Schauen Sie, die sind höher, damit der Reisende das Gefühl von mehr Privatsphäre hat. Und hier, direkt am Sitz, befindet sich jetzt das Reservierungsschild." In der ersten Klasse ist dort zusätzlich noch eine Leselampe integriert.

Ein neues Lichtkonzept, acht Fahrradplätze und massig Steckdosen

830 Sitzplätze hat die lange Version des ICE 4, die insgesamt zwölf Waggons umfasst. Fast 350 Meter lang ist der Zug, mehr geht nicht, weil dann die meisten Bahnsteige in Deutschland zu kurz wären. 625 Passagiere finden in der zweiten Klasse Platz, 205 in der ersten. Ursprünglich hatten die Siemens-Planer mal tausend Plätze pro Zug vorgesehen. Das wäre ein Rekord, aber es wäre eng wie in einer S-Bahn im Berufsverkehr geworden - ein Albtraum gerade in der Ferienzeit, wenn Familien mit großem Gepäck unterwegs sind und sich alle aneinander vorbei drängeln müssen. Deshalb hat die Bahn den Plan verworfen.

Siemens baute um: Nun gibt es weniger Sitze, aber mehr Platz, auch für Gepäck, die Fächer befinden sich in der Mitte der Waggons, nicht in der Nähe der Türen. Denn die Passagiere wollen ihre Koffer und Taschen immer im Blick haben, wie Höbel erzählt. Dazu kommen, auch das ist neu im ICE, acht Fahrradplätze.

Höbel setzt sich in einen der Sitze am Gang, lehnt sich an und drückt einen Hebel. Die Sitzschale gleitet nach vorne in eine bequemere Position. Die Rückenlehne geht aber nicht nach hinten, so wird der Fahrgast dahinter nicht gestört, wenn der Vordermann entspannen will. An jedem Sitzplatz befindet sich eine Steckdose, und Wlan soll es auch überall geben. Von der Decke hängen Bildschirme, die Informationen für die Reisenden anzeigen.

Besonders stolz ist Höbel auf das neue Lichtkonzept. Oben, über den Köpfen der Reisenden wurden LED-Lichtbänder installiert, die sich in vielen Variationen steuern lassen. Höbel lässt es vorführen: Zunächst wird das Licht heller, so soll es am Tag aussehen, dann gedämpfter, für die Fahrten am Abend oder in der Nacht. Blau, grün, rot - auch verschiedene Farben sind möglich. Gerade das unterschiedliche Licht, so die Erkenntnis der Entwickler, wirke beruhigend auf die Reisenden.

Aufregendes Design geht anders

Fest steht aber auch: Das neue Design ist nicht sehr aufregend. Helles Holz, blaue Sitze, graues Plastik - bloß keine allzu großen Veränderungen. "Das ist nicht gerade extrovertiert, sondern konservativ und praktisch", sagt Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn. Er ist auch schon Probe gefahren und hat ausnahmsweise kaum etwas auszusetzen an dem neuen Zug. Manche Fensterplätze seien nicht am Fenster, die Piktogramme manchmal verwirrend. Und sonst? Die Toiletten? Völlig ausreichend. Der Speisewagen? Funktional, überall genug Platz. Und: "Die Laufruhe ist sehr schön", sagt Naumann.

Auch außen sind die Veränderungen kaum zu erkennen: Weiß mit roten Streifen, die Schnauze etwas breiter, oberhalb der Schweinwerfer gibt es Schlitze für die Luft, darunter ein roter Strich. Manche erinnert das an ein Gesicht, einige bei der Bahn finden den ICE 4 sogar so schön, dass sie ihn intern Angelina Jolie nennen.

Zeitloses Design oder gepflegte Langeweile? Den Entwicklern und der Bahn waren die inneren Werte offenbar wichtiger. "Auch wenn man das nicht sieht, der neue Zug ist sehr innovativ. Das ist kein normaler Zug", sagt ein Bahnexperte.

Bauteile vom Vorgänger? Nur die Spülmachine!

"Rein technisch gibt es kein einziges gleiches Teil im ICE 4 im Vergleich zu den Vorgängern", sagt Martin Offer, der bei Siemens für das Projekt zuständig ist. Nur die Spülmaschinen in der Bordküche seien die gleichen geblieben, sonst wurde im Vergleich zum ersten ICE, der 1991 in Betrieb ging, alles geändert. Die Länge eines Waggons wurde um zwei auf 28 Meter verlängert, dadurch finden nicht nur mehr Passagiere Platz, es war auch wichtig für technische Änderungen, sagt Offer. Denn nun konnten die Antriebskomponenten in einem Waggon untergebracht und mussten nicht mehr auf mehrere verteilt werden wie bisher im ICE 3.

Diese Veränderung hat weitreichende Folgen: Bei einem zwölfteiligen Zug gibt es jetzt sechs sogenannte Powercars, die unabhängig voneinander sind, der Rest sind einfache Waggons ohne Antrieb. Das bringt mehr Flexibilität, die Waggons können beliebig kombiniert werden, es sind lange und kurze Züge möglich, und nicht nur die georderten 12- und 7-Teiler. Außerdem wurde viel Gewicht eingespart, insbesondere durch sogenannte innengelagerte Laufdrehgestelle. "Die Energieeffizienz gegenüber dem ICE 1 ist um 22 Prozent je Sitzplatz verbessert worden", betont Offer. Besonders wichtig: Es gibt - bislang zumindest - keine Verzögerungen und Pannen. "Das Projekt läuft genau nach Plan", so Offer. "Wir hatten keine Verzögerungen bei allen Genehmigungen."

Das ICE-Fiasko von 2013 darf sich nicht wiederholen

Das ist keineswegs selbstverständlich. Vor vier Jahren, im April 2013, musste der für das Bahngeschäft verantwortliche Siemens-Vorstand Roland Busch seine bislang größte Pleite eingestehen: "Ich gebe zu: Wir haben die Komplexität des Auftrags unterschätzt." Die ICE 3-Züge, die der damalige Konzernchef Peter Löscher der Deutschen Bahn versprochen hatte, waren nicht fertig. Es gab Probleme mit der Software und mit den Bremsen. Das Eisenbahn-Bundesamt verweigerte die Zulassung, die fertigen Züge standen im Testzentrum in Wegberg-Wildenrath und konnten nicht ausgeliefert werden - obwohl die Bahn sie dringend brauchte.

Ein Fiasko für alle Beteiligten - aber vor allem peinlich für Siemens, den Hoflieferanten der Bahn, den Pionier. Schließlich hatte Firmengründer Werner von Siemens 1879 die erste elektrische Lokomotive entwickelt. Der Münchner Konzern musste hohe Verluste verbuchen, lieferte erst Jahre später als geplant - und musste am Ende der Bahn auch einen 17. Zug kostenfrei liefern, als Entschädigung.

Heute ist vieles anders. Das Zulassungsverfahren ist anders, Siemens und die Bahn prüfen nun selbst, das Eisenbahn-Bundesamt segnet das dann ab. Kompliziert ist es immer noch: Pro Zulassung sind bis zu 20 000 Dokumente notwendig. Nun gibt es aber ein neues, ernstes Problem, und das heißt Bombardier. Der kanadische Flugzeug- und Zughersteller steckt in Schwierigkeiten, der Umsatz geht zurück, es gibt Verluste und in Europa läuft ein Spar- und Stellenabbau-Programm, 5000 Jobs sollen wegfallen. Wie es weitergeht, will die Konzernführung bald verkünden. Auf Bombardier als Konsortialpartner entfallen 30 Prozent des ICE 4-Auftrags.

Die Unruhe ist groß, auch wenn Bombardier weiter liefert, unter anderem die Rohkarossen der Waggons und die Laufdrehgestelle, aber auch ganze Waggons aus dem Werk in Hennigsdorf bei Berlin. "Wir beobachten das sehr aufmerksam", sagt Siemens-Projektmanager Offer. Schon länger wird über einen Zusammenschluss der Bahntechniksparten von Siemens und Bombardier spekuliert. Doch es ist unklar, ob die Kartellbehörden das genehmigen würden.

500000 Kilometer fährt ein ICE im Jahr - eine hohe Belastung für das Material

Zwei Zugeinheiten sind schon in Betrieb, je zwei Mal am Tag fährt ein ICE 4 zwischen München und Hamburg. "Es gibt etwa 200 Dinge, die wir noch ändern - von Kleinigkeiten bis zu größeren Sachen", sagt Bahn-Manager Höbel. So sind die Deckel der Mülleimer zu klein. Und die Gepäckfächer ragen noch zu weit in den Gang hinein - für Passagiere, die aneinander vorbei kommen wollen, ist das unbequem.

Am Ende, wenn alle Änderungen gemacht und alles überprüft ist, wird das Testzentrum in Wegberg-Wildenrath auch zur Auslieferzentrale für den neuen ICE 4. "Hier werden die ICE zu einer Einheit zusammengestellt, in Betrieb gesetzt und getestet", sagt Siemens-Mann Krings. "Bis hin zur Auslieferung an die Deutsche Bahn." Die Waggons werden so konfiguriert, dass sie am Ende einen Zug bilden.

Der Standort gilt als weltweit einzigartig. 1950 haben die Briten hier einen Nato-Militärflughafen gebaut, mit einer 1830 Meter langen Start- und Landebahn, die Bomber hatten atomare Waffen an Bord. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde der Standort aufgegeben, zurück blieb eine Brache. Im August 1993 fand ein dreitätiges Rockfestival statt, Prince war da, Joe Cocker, Chris de Burg und Rod Stewart, immer wieder fanden auf dem riesigen Gelände Konzerte und Partys statt.

Bis 1997 Siemens kam. Der Weltkonzern aus München baute hier, in der Abgeschiedenheit am Niederrhein, ein 44 Hektar großes Testgelände für Schienenfahrzeuge. Inzwischen gibt es rund 400 Mitarbeiter, geprüft werden die Züge von Siemens, aber auch die anderer Hersteller oder Betreiber - auf dem großen Ring Hochgeschwindigkeitszüge, auf einem kleineren, drei Kilometer langen Rund auch Straßen- und U-Bahnen aller Art.

Auch an diesem Tag stehen sie bereit für Testfahrten: die neue tiefblaue U-Bahn für München, daneben die Bahn für Katar und der rot-blau lackierte Untergrundzug für Riad (der drei Klassen hat: für Männer, Frauen und Familien). Eine Reihe weiter warten der neue Nahverkehrszug für den Großraum London, der Thameslink heißt, und der blau-silberne Eurostar, der durch den Tunnel zwischen Frankreich und England verkehrt. Und in der 410 Meter langen Halle 2 steht der neue ICE 4. Alle werden hier ein letztes Mal geprüft, bevor sie an die Kunden ausgeliefert werden.

Es geht um viel - für die Bahn und für Siemens. Höbel sagt: "Ein ICE fährt 500 000 Kilometer im Jahr, und das 30 Jahre lang." Auch Notbremsungen müssen da einwandfrei funktionieren.

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