Klimaneutralität:Mehr Windkraft, sparsamere Häuser

Klimaneutralität: Bis 2050 sollte die Kapazität von Windrädern an Land fast verdreifacht werden.

Bis 2050 sollte die Kapazität von Windrädern an Land fast verdreifacht werden.

(Foto: Martin Meissner/AP)

Die Deutsche Energie-Agentur entwirft ein Leitbild, wie Strom- und Gasnetze in einer klimaneutralen Zukunft aussehen und geplant werden sollten - und gibt der nächsten Regierung dringende Ratschläge. Einiges muss sich ändern.

Von Benedikt Müller-Arnold, Düsseldorf

Sie prangen auf Wiesen, führen an Orten vorbei, über Straßen hinweg: Masten und Leitungen transportieren den Strom von Großkraftwerken über Umspannwerke hin zu Häusern und Betrieben. Doch die Energiewende verändert das System: Atom- und Kohlemeiler gehen nach und nach vom Netz, mehr und mehr Solarzellen und Windräder speisen Strom im Kleinen ein. Die wahrscheinlich künftige Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP will den Wandel erklärtermaßen voranbringen.

Doch wie sollte die Strom- und Gasinfrastruktur in einer klimaneutralen Zukunft aussehen? Damit befasst sich die Deutsche Energie-Agentur (Dena) in ihrer Netzstudie, die das Bundeswirtschaftsministerium fördert. Der Zwischenbericht, den die Dena an diesem Montag vorlegen will, enthält dringende Ratschläge für die nächste Regierungskoalition. "Wir haben unsere Vorschläge sehr breit diskutiert", sagt Dena-Chef Andreas Kuhlmann: "mit Netzbetreibern und der Energiewirtschaft, aber auch mit Bund, Ländern und Nichtregierungsorganisationen."

Die Planung: Es beginnt bei der Planung. Bislang erstellt Deutschland alle zwei Jahre jeweils getrennte Netzentwicklungspläne für Strom und Gas. Dabei "gehen viele grundsätzliche Fragen aus der Bevölkerung ein", sagt Hannes Seidl, Bereichsleiter für Energiesysteme der Dena, "die über einzelne Netzentwicklungspläne hinausgehen." Und es stimmt ja auch: Je mehr strombetriebene Wärmepumpen beispielsweise Gasheizungen ersetzen, desto ungeschickter erscheint es, die Zukunft dieser Infrastrukturen getrennt zu planen.

Die Dena wirbt dafür, dass der Bund künftig zunächst ein Leitbild für alle Energienetze erarbeiten lassen sollte, in einem Prozess mit viel Beteiligung. Der "sollte idealerweise im kommenden Frühjahr beginnen", sagt Kuhlmann. "Dann könnten die einzelnen Netzentwicklungspläne ab 2024 auf dem neuen vorgelagerten Systementwicklungsplan aufbauen." In dem Zwischenbericht entwirft die bundeseigene Agentur ein solches Leitbild, ausgehend von verschiedenen Studien und Szenarien.

Die Gebäude: Gedämmte Fassaden, dichtere Fenster: Die Dena erwartet, dass der Energiebedarf aller Gebäude in Deutschland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten deutlich zurückgehen dürfte, wenn die Häuser effizienter werden. "Der Staat sollte die Energiestandards für Neubauten perspektivisch verschärfen", fordert Kuhlmann. Auch bestehende Gebäude bräuchten eine höhere Sanierungstiefe, wenn sie energetisch umgebaut werden. "Wir müssen mit der Sanierungsrate deutlich vorankommen", mahnt der Dena-Chef. Tatsächlich waren Gebäude der einzige Sektor, der im Corona-Jahr 2020 die CO₂-Einsparziele des Bundes verfehlte.

Gerade sanierte und neu gebaute Häuser dürften künftig mit Wärmepumpen heizen, prognostiziert die Studie. Es bleibe freilich eine gewisse Unsicherheit, wie sanierbare Gebäude künftig ohne Erdgas oder Heizöl warmwerden sollten. Hoffnungen ruhen hier etwa auf effizienteren Groß-Wärmepumpen, die lokale Wärmenetze speisen könnten. "Sie können Strom-Erzeugungsspitzen nutzen, zum Beispiel zur Mittagszeit, um Wärme-Lastspitzen zu glätten, zum Beispiel am Abend", sagt Dena-Experte Alexander Müller. Alternativ könnten Häuser mit klimaneutralen Gasen wie "grünem" Wasserstoff heizen; doch der ist noch ein rares Gut.

Der Verkehr: Bei der Mobilität ergibt sich ein ähnliches Bild: "Bei Pkw und leichten Lkw werden elektrische Antriebe dominieren", prophezeit der Zwischenbericht. Der internationale Schiff- und Flugverkehr dürfte hingegen Bio- oder synthetische Kraftstoffe brauchen, hergestellt mit viel Ökostrom.

In jedem Fall könne es zur Herausforderung fürs Netz werden, wenn viele Autos gleichzeitig ihre Akkus laden wollen. Hier brauche es notfalls Durchgriffsrechte, fordert Kuhlmann: "Netzbetreiber sollten die Möglichkeit haben, den Verbrauch privater Einrichtungen wie Ladesäulen zeitlich zu verschieben, wenn ansonsten eine Überlastung droht." Die Autoindustrie warnte zuletzt vor entsprechenden Gesetzesplänen: Das verordnete Abschalten wäre ein schlechtes Signal für Besitzer und Hersteller von Elektroautos, so das Argument.

Die Industrie: Egal ob Stahlwerk oder Chemiefabrik: Viele Industriebetriebe werden Anlagen kräftig umbauen müssen, um sie statt mit Kohle und Erdgas künftig mit Strom, Biomasse oder "grünen" Gasen zu betreiben. Sowohl die Nachfrage nach Strom als auch nach Wasserstoff werde deutlich steigen, sagt die Dena voraus. "Daher muss das Stromnetz in Teilen verstärkt oder ausgebaut werden."

Bislang, moniert Kuhlmann, geben die Regeln für Netzentgelte Firmen einen Anreiz, Strom möglichst gleichmäßig zu verbrauchen; sogenannte Lastspitzen hingegen können teuer werden. Das passt schlecht in eine Zukunft, in der stets unterschiedlich viel Wind- und Sonnenstrom bereitsteht. "Hier besteht entsprechender Anpassungsbedarf", sagt Kuhlmann: Netzbetreiber bräuchten vielmehr Anreize, Flexibilität bereitzustellen - und Abnehmer Anreize, um Flexibilität zu nutzen.

Die Stromerzeugung: Doch woher kommt der viele Strom, den ein klimaneutrales Deutschland benötigt? Die Republik werde den Bedarf auch künftig "zum größten Teil durch die Erzeugung im Inland" decken, sagt die Dena voraus. Freilich brauche es dafür - ohne Kernkraft und klimaschädliche Meiler - bis 2050 fast die dreifache Kapazität von Windrädern an Land, durch zusätzliche und leistungsfähigere Anlagen. Die installierte Leistung aller Windparks auf dem Meer und aller Photovoltaik-Anlagen müsste sich gar verfünffachen. Dennoch werde Deutschland insgesamt wohl vom Exporteur zum Importeur von Strom.

Tatsächlich wollen SPD, Grüne und FDP laut Sondierungspapier die Planungs- und Genehmigungsverfahren für Erneuerbare Energien vereinfachen. Auf gewerblichen Neubauten sollen Solaranlagen zur Pflicht werden, auf privaten Neubauten "die Regel". Zudem wollen die Ampel-Parteien zwei Prozent der Landesfläche für Windräder ausgewiesen sehen, auch die Kapazitäten auf See sollen erheblich steigen.

Die Netze: Wenngleich das Energiesystem eher dezentral wird, braucht es Leitungen, die künftig vor allem die viele "grüne" Energie vom Norden Deutschlands in die industriellen Zentren weiter im Süden transportieren. Die Studie konstatiert sogar, dass die Übertragungskapazität, die der Netzentwicklungsplan Strom für 2035 vorsieht, "nicht ausreichend" sei.

Im Gegensatz dazu dürfte die Menge an Gas zurückgehen, wenn künftig beispielsweise weniger Häuser mit dem Energieträger heizen. Zwar könne ein Teil der bestehenden Leitungen künftig jene "grünen" Gase transportieren, so die Dena. Dennoch könne die Stilllegung einzelner Gasleitungen mittelfristig "nicht ausgeschlossen werden".

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