Süddeutsche Zeitung

Den Erben auf der Spur:Die Geheimnisse der Einsamen

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Nachlasspfleger fahnden in aller Welt nach Hinterbliebenen und helfen, Mietverhältnisse abzuwickeln. Sie werden auch aktiv, wenn alleinstehende Menschen sterben.

Von Stephanie Schmidt

Erst nach dreimaligem Läuten streckt die Mieterin den Kopf aus der Eingangstür ihrer Wohnung in einem 60-Parteien-Gebäude. Sie wird gefragt, ob sie wusste, dass ihr Nachbar schon seit sechs Wochen tot ist. Die junge Frau schüttelt betreten den Kopf. Ob sie etwas über den Mann, der seit 20 Jahren allein in seiner Wohnung lebte, erzählen könne. Wieder verneint sie. Während der vier Jahre, die sie in dem Haus wohne, habe sie ihn nur ein paar Male flüchtig im Treppenhaus gesehen. An seiner Wohnungstür hatte der zurückgezogen lebende Mieter noch nicht einmal ein Namensschild befestigt.

Auf ähnliche Art wird Immobiliengutachter Peter Mues häufig mit der Anonymität der Großstadt konfrontiert - in seinem zweiten Beruf als Nachlasspfleger. "Viele Menschen sind sehr einsam. Sie kennen ihre Nachbarn nicht. Doch gerade von den Nachbarn kann man sehr viel erfahren", sagt Mues. Das ist wichtig für Nachlasspfleger, deren oft aufwendige Nachforschungen erst beginnen, nachdem ein alleinstehender Mieter gestorben ist, und der Vermieter die Erben nicht ausfindig machen konnte. Genau dies sollte ihm ein Anliegen sein. Denn mit den Erben wird der Mietvertrag automatisch fortgesetzt - er endet nicht mit dem Tod des Mieters. Unter bestimmten Bedingungen kann der Vermieter den Erben kündigen und finanzielle Ansprüche ihnen gegenüber geltend machen.

Der Vermieter darf die Wohnung nicht einfach ausräumen, nicht einmal ohne Erlaubnis betreten

Was kann der Vermieter selbst unternehmen? "Zunächst sollte er beim Nachlassgericht vorstellig werden - eventuell wurde dort ein Testament hinterlegt. Um Akteneinsicht zu erhalten, muss er den Mietvertrag vorlegen", erklärt Inka-Maria Storm, Referentin für Miet- und Immobilienrecht beim Eigentümerverband Haus & Grund Deutschland in Berlin. Außerdem hätten Vermieter privater Wohnräume die Möglichkeit, die Personenstandsurkunden des Verstorbenen einzusehen, etwa die Geburts-, Ehe- oder Sterbeurkunde. "Hierzu muss er ein rechtliches Interesse glaubhaft machen. Dies könnte durch Vorlage des Mietvertrages gelingen."

Die Sache mit der Akteneinsicht klappt nicht ohne Weiteres, und oft taucht kein Testament auf. Trotzdem darf der Vermieter die Wohnung nicht ohne Erlaubnis der Erben oder des Nachlasspflegers betreten, das wäre laut Paragraf 858 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) "verbotene Eigenmacht". Eine Ausnahme bilden spezielle Gefahrensituationen, etwa wenn ein Toter seit Längerem in dem Appartement liegt. Die Wohnung in Eigenregie ausräumen und neu vermieten - das darf der Vermieter schon gar nicht. Grundsätzlich ist er gesetzlich dazu verpflichtet, sich an das für den Wohnort des Verstorbenen zuständige Amtsgericht zu wenden und eine sogenannte Nachlasspflegschaft zu beantragen. Der Vermieter benötigt unbedingt einen Ansprechpartner, um das Mietverhältnis kündigen zu können - das ist der vom Amtsgericht bestellte Nachlasspfleger. "Er muss sich genauso verhalten, als ob er selbst der Erbe wäre", betont Falk Schulz. Der Fachanwalt für Erbrecht und Peter Mues sind Vorsitzende des Bundes Deutscher Nachlasspfleger (BDN) mit Sitz in Münster.

Ein Nachlasspfleger vertritt die unbekannten Erben. Er verwaltet den Nachlass und versucht, die Erben zu ermitteln. Offizielle Zahlen, wie viele Nachlasspfleger es in Deutschland gibt, existieren nicht, sagt Falk Schulz. "Der BDN geht davon aus, dass es circa 500 Menschen sind, die das hauptberuflich machen." Häufig übernehmen zudem Rechtsanwälte nebenberuflich Nachlasspflegschaften.

Wie geht ein Nachlasspfleger vor? Zunächst dokumentiert er genau, welche Wertsachen sich im Haus oder der Wohnung des Verstorbenen befinden, wie viel Geld er auf der Bank deponiert hat, sichtet die gefundenen Dokumente und fahndet nach den Wohnungsschlüsseln, damit keine Gegenstände abhanden kommen. "An den Staubspuren an einer bestimmten Stelle kann man sehen, dass dort bis vor Kurzem ein Fernseher stand, so was kommt schon mal vor. Da müssen Sie dann herausfinden, wer das war", erzählt Peter Mues.

Ein Nachlasspfleger klärt auch mit dem Vermieter, ob der Mieter Schulden bei ihm hatte, die sich aus dem Nachlass tilgen lassen, und wer für Schönheitsreparaturen aufkommen muss. Er braucht eine robuste Psyche, darf nicht aus dem Gleichgewicht geraten, wenn er eine Wohnung mit Verwesungsschäden und Leichengeruch betritt. "Das gehört zur Praxis bei diesem Beruf, dass Sie in einen Raum kommen, in dem ein Toter wochenlang unentdeckt im Sessel saß. Sie müssen dann zum Beispiel entscheiden, ob die Wohnung gereinigt und desinfiziert werden muss, bevor andere sie betreten", erläutert Mues. In einigen Fällen sei eine Komplettsanierung der Wohnung nötig, die 20 000 bis 30 000 Euro kosten könne. Wohnungseigentümer müssen damit rechnen, dass sie bei Schadenersatzforderungen wegen Verwesungsschäden vor Gericht unterliegen (AG Bad Schwartau, Urteil vom 5.1.2001 - 3 C 1214/99).

Nicht immer ist es der Vermieter, von dem die Initiative für eine Nachlasspflegschaft ausgeht. Manchmal sind es auch Erben, die untereinander zerstritten sind. Der Nachlasspfleger versucht zu schlichten und verwaltet das Erbe, solange bis die Angelegenheit geklärt ist. "Der Beruf des Nachlasspflegers ist sehr facettenreich. Es gibt eine juristische Komponente, eine kaufmännische, eine psychologische. Man braucht auch Kenntnisse über Immobilienverwaltung und organisatorisches Talent. Und vor allem detektivische Fähigkeiten", sagt Falk Schulz, der seit 16 Jahren Nachlasspflegschaften übernimmt.

Detektivische Kompetenz ist vor allem dann gefragt, wenn Vermögen vorhanden ist. "Nur in diesem Fall hat es Sinn, umfangreiche Nachforschungen anzustellen, um die Erben zu finden", stellt Falk Schulz fest. "Wir ermitteln weltweit." In einer solchen Aufgabe könne "die komplette genealogische Forschung mit drin sein. Manchmal dauert es Monate, bis man die benötigte Urkunde bekommt, mitunter kann es sogar zwei Jahre dauern. Außerdem gibt es Personenstandsurkunden erst seit 1874. Für die Zeit davor muss man in die Kirchenbücher gehen." Doch seien die meisten Recherchen von Erfolg gekrönt.

Eine gesetzliche Erbenermittlung kann sich über viele Jahre hinziehen

Häufig führten die Ermittlungen ins Ausland. "Nicht selten wenden Herr Mues und ich uns an die russischen und polnischen Archive. In manchen Fällen hat man es zum Beispiel mit einem Familienzweig zu tun, der eine Auswanderungswelle in die USA mitgemacht hat", führt Schulz aus. Je nach Komplexität könne eine gesetzliche Erbenermittlung sechs bis sieben Jahre oder sogar noch länger dauern. "Unter einem Jahr geht da meist nichts."

Führen alle Spuren ins Leere, wird die Erbschaft öffentlich bekannt gemacht und an der Gerichtstafel und im Bundesanzeiger veröffentlicht. Meldet sich niemand, erbt zu guter Letzt der Fiskus. Dies kommt laut Schulz und Mues aber eher selten vor. "Der Staat kann in solchen Fällen die Erbschaft nicht ausschlagen", sagt Schulz. Damit der Vermieter bei langwierigen Erbermittlungen nicht jahrelang warten muss, bis er seine Wohnung neu vermieten kann, sorgt der Nachlasspfleger unter anderem für die Räumung der Wohnung und regelt mit dem Vermieter, welche Gegenstände eingelagert werden müssen.

In eine unglückliche Lage geraten Vermieter, wenn die Erben unbekannt sind, und der Nachlass überschuldet ist. "Nachdem der Nachlasspfleger die Wohnung freigegeben hat, ist der Vermieter auf sich allein gestellt", erklärt Falk Schulz. Will heißen: Er muss selbst für die Renovierung aufkommen, wofür die Kaution meistens nicht ausreicht. "Wenn kein Vermögen vorhanden ist, geht es nur noch darum, den Schaden gering zu halten und das Mietverhältnis möglichst schnell abzuwickeln", erklärt Inka-Marie Storm von Haus & Grund. Auf jeden Fall hätten Vermieter auch bei einem überschuldeten Nachlass das Recht auf einen Nachlasspfleger als Ansprechpartner für alle Aspekte des Mietverhältnisses inklusive Räumung, stellt die Mietrechtsexpertin fest. Wie der Antrag des Vermieters für das Amtsgericht aussehen sollte, sei nicht bei einer einfachen Internet-Recherche zu klären. Storm: "Ich rate Betroffenen, sich an einen Fachanwalt zu wenden und den Antrag gemeinsam mit ihm zu formulieren."

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Quelle:
SZ vom 15.04.2016
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