(SZ vom 13.11.03) — Die Fragen klangen harmlos. "Was war die Degesch?" "Wer waren die Geschäftsführer der Degesch bis 1945?" "Was ist Zyklon B?"
Stellen ließ sie vor ein paar Tagen der Degussa-Vorstandsvorsitzende Professor Dr. Utz-Hellmuth Felcht seinen Mitarbeitern im firmeninternen "Intranet".
Ungewöhnliche Fragen an dieser Stelle - aber die anhängenden Antworten machten dann deutlich, dass der Chef des Unternehmens seinen Mitarbeitern einen Schnellkurs in deutscher Geschichte verordnete. Es ist dunkelste Firmengeschichte, diese Degussa-Geschichte.
Blausäureprodukt Zyklon B
Die Degesch, so erfuhr die Belegschaft, war eine Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung, an der die Degussa mal 100, mal 42,5 Prozent Anteile hielt. Einer der Degesch-Geschäftsführer war der spätere Degussa-Chef Hermann Schlosser, und Zyklon B war ein Blausäureprodukt, das von Degesch-Filialen in gasdichten Blechdosen verkauft wurde.
Das Gas wurde zwischen 1941 und 1944 "systematisch für Massenmorde an den Menschen in den Vernichtungslagern" eingesetzt. Die Sätze im Degussa-Intranet beschönigten nichts.
Ein wenig in die Irre führte in der Mitteilung für die 48 000 Degussa-Mitarbeiter nur die Überschrift: "Der Missbrauch von Zyklon B durch die Waffen SS". Es war kein Missbrauch, es war ein Geschäft. Pro Jahr fielen damals etwa 200.000 Reichsmark Gewinn ab.
Geraubtes Gold
Eine andere Degussa-Tochter, die Auergesellschaft AG, stattete die SS-Mannschaften mit Spezialmasken aus; Degussa schmolz außerdem mehr als eine Tonne Gold ein, das den Juden geraubt worden war, und unterstützte die Atompläne Adolf Hitlers. Eine solche NS-Vergangenheit hat kaum ein anderes Unternehmen.
Ist es den Opfern des Holocaust zumutbar, wenn ein solches Unternehmen den Graffiti-Schutz für das Mahnmal der ermordeten Juden in Berlin liefert? Oder wäre die Beteiligung der Degussa am Mahnmal ein Zeichen der Versöhnung?
Am 23. Oktober hat das Kuratorium der Mahnmal-Stiftung entschieden, eine Verwendung eines Degussa-Produkts sei "mit dem besonderen Charakter" des Denkmalprojekts nicht vereinbar. Am heutigen Donnerstag nun will das Kuratorium in der Sache noch einmal tagen und entscheiden. Die Zahl der Befürworter hat zugenommen, auch weil Lea Rosh, die Vorsitzende des Mahnmal-Fördervereins, dagegen ist.
Verfahrene Debatte
Eine verfahrene Debatte. Felcht, ein knurriger Westfale des Jahrgangs 1947, hat Ende Oktober dem Vorsitzenden der Stiftung, Wolfgang Thierse, geschrieben, angesichts des Engagements der Degussa bei der Aufarbeitung der Vergangenheit empfinde er die "schroffe Ablehnung" als "besonders schmerzhaft".
Aber er sagt auch: "Wir können mit jeder Entscheidung leben." Die Geschichte des Mahnmals ist von Anfang an auch eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen, der Versäumnisse und Selbstgerechtigkeiten. Eine quälende deutsche Debatte, in der die Vergangenheit zwar verstanden, aber nicht wirklich begriffen wird. Derzeit ist das Projekt wieder mal in der Sackgasse.
Steine für die Ewigkeit
Ortstermin Ebertstraße/Behrenstraße in Berlin: Auf dem von einem Bauzaun abgeriegelten Gelände stehen die ersten 43 der 2752 Stahlbetonfertigteilstelen, die später das Mahnmal-Areal bilden sollen. Fester, eingefärbter Sichtbeton, schalungsglatt - Steine für die Ewigkeit.
Eine sehr große Injektion gegen die Amnesie. Zwischen den Betonquadern plätten ein paar Bauarbeiter die sandige Erde.
Es ist ruhig auf der Baustelle. Weitere Stelen kommen erst, wenn entschieden ist, ob sie mit dem Degussa-Produkt "Protectosil" oder mit einem anderen Produkt behandelt werden sollen.
Ortstermin Joachimsthal in Brandenburg: Auf einem etwa sechs Hektar großen Gelände hat die Wilhelmshavener Firma Geithner Bau 1994 ein Stahlbetonfertigungswerk errichtet: zwei Portalkräne mit einer Spannweite von dreißig Metern, vier große Hallen, zwei riesige Zelte, in denen hunderte Stelen stehen und nicht ausgeliefert werden.
Schwierige Entscheidungen
Von den insgesamt achtzig Beschäftigten in Joachimsthal arbeiten rund sechzig für das Mahnmal-Projekt, das Arbeit bis August 2004 garantieren sollte. Jetzt sind die meisten Mitarbeiter zu Hause und warten auf die Entscheidung.
Insgesamt 320 Steinbrocken sind bislang mit dem Degussa-Produkt, das die Stelen versiegelt und wie Schiefer schimmern lässt, behandelt worden. Wenn die Entscheidung gegen Degussa fällt, stellen sich ein paar weitere Fragen: Müssen die behandelten Steine abgeschliffen werden? Oder dürfen die 320 bleiben? Und sind sie dann weniger wertvoll als die anderen?
Die Beteiligten sind in eine Debatte geraten, die sie wie über Stolpersteine straucheln lässt. Ursprünglich wollte das Unternehmen Geithner Bau, das auch am Bundeskanzleramt mitgebaut hat, ein Schweizer Produkt für den Graffitischutz verwenden. Eine Firma aus Hannover, zuständig für die Oberfläche der Stelen, wollte dann lieber das Degussa-Material.
Zündende Idee
Ein Marketing-Manager der Degussa hatte daraufhin eine zündende Idee. Er kam "auf Grund der historischen Bedeutung des geplanten Denkmals" auf den zierlichen Einfall, die Aktion zu sponsern und das Material für den Graffitischutz billiger anzubieten.
Die Senatsverwaltung der notorisch klammen Hauptstadt und die Stiftung begrüßten die Idee außerordentlich. Nun wird das tragische Stück ein bisschen komisch. Frau Rosh sagt heute, dass ihr der Zusammenhang zwischen Degussa und Degesch so nicht bekannt gewesen sei.
Aufklärungsarbeit erforderlich
Es braucht offenbar noch viel Aufklärungsarbeit. Manchmal dauert die sogar ein ganzes Leben. Bei der Degussa war allerdings die Hausspitze nicht in die Sponsor-Aktion eingeweiht. Weder der Bereichsvorstand, noch der Zentralvorstand waren informiert worden. Hat da einer was versäumt?
"Wir nicht", sagt Utz-Hellmuth Felcht und hebt die Arme. Die Stiftung sei korrekt informiert worden. Andererseits wäre es ganz schön gewesen, seufzt er, wenn sich vorher der Vorstand mit der Idee hätte beschäftigen können. Aber: "Kein Vorwurf." Pause. "Niemandem."
Schwaches Echo
Immer wieder wird Degussa von der eigenen Geschichte eingeholt. Im vergangenen Jahr drohte Gefahr durch den amerikanischen Spielfilm "Steeling the Fire", der sich mit der Degussa-Historie beschäftigte, aber der Streifen fand weder in Deutschland noch den USA großes Echo.
Vielleicht ist die Degussa-Geschichte zu kompliziert. Es gibt die ganz alte Degussa, die alte Degussa und die neue Degussa. Die ist 2001 durch die Fusion der Degussa-Hüls AG und der SK Trostberg AG entstanden. Felcht kommt von der SK, und die war vergleichsweise sauber. Vielleicht wäre es klug gewesen, den Firmennamen zu wechseln.
Ortstermin Frankfurt: Zur ganz alten Degussa gehört die Hermann-Schlosser-Stiftung und das Schlosser-Haus. Schlosser war nicht nur bei Degussa-Degesch, sondern auch Reichwirtschaftsführer Chemie, und er hat aus Karrieregründen seinen Eintritt in die NSDAP im Jahr 1939 auf 1933 zurückdatieren lassen.
Vierteljude im Vorstand
Andererseits hat er in den Vierzigerjahren nachweislich Juden davor gerettet, mit Degesch-Produkten ermordet zu werden. Die Reichsgesetzgebung unterschied damals, wie man weiß, zwischen Volljuden, Dreivierteljuden, Halbjuden, Vierteljuden und Achteljuden - und bei Degussa blieb ein Vierteljude im Vorstand.
Auch dank Schlosser. Nach dem Krieg hat er dann das Unternehmen wieder aufgebaut, aber sein Name soll jetzt verschwinden. Seine Stiftung ist in einer Degussa-Stiftung aufgegangen, und das Schlosser-Haus soll künftig Degussa-Haus heißen. Das sei kein "Akt gegen Schlosser", sagt der Kommunikationschef des Hauses, Ralph Driever. Zwinkert er, als er das sagt, mit den Augen? Oder ist es die Sonne, die ihn blendet?
Michael Jansen, früher Generalbevollmächtigter bei Degussa und vom Konzern im Jahr 2000 für die Zwangsarbeiter-Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" freigestellt, ist früher im Ausland als Degussa-Mann schon mal gefragt worden, ob er für die Firma arbeite, die Millionen Juden umgebracht hat?
Deutsche Sache
Vor ein paar Tagen hat Jansen in New York mit 14 jüdischen Geistlichen über "Protectosil" gesprochen. Das sei eine deutsche Sache, haben die Rabbis gesagt. Sie wollten da keine Ratschläge geben.
Ortstermin Archiv: In Frankfurt befindet sich das größte der fünf Degussa-Unternehmensarchive. Aneinander gereiht ergäben die Akten eine drei Kilometer lange Strecke.
Die Geschichte ist immer noch nicht richtig aufgearbeitet: In den Neunzigerjahren hat der amerikanische Geschichtsprofessor Peter Hayes den Auftrag bekommen, sich mit der Geschichte der Frankfurter Deutsche Gold-und Silber-Scheideanstalt zwischen 1933 und 1945 zu beschäftigen. Hayes lässt sich viel Zeit.
Elegantes Umgehen
Angeblich soll das Buch erst im Herbst 2004 in Deutschland erscheinen. Bei Degussa wird, so scheint es, nichts vertuscht, aber andere Unternehmen - wie die Deutsche Bank - sind in Symposien und anderen Veranstaltungen offensiver mit der eigenen Geschichte umgegangen.
Gibt es noch Geheimnisse? Vor einer Weile wollte der Münchner Historiker Michael Wolffsohn einen Blick ins Frankfurter Degussa-Archiv werfen. Er ist Jude, und er interessiert sich für eine spezielle jüdische Geschichte. Zwischen 1950 und 1953 hatte Ignatz Bubis, der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden, mit Degussa glänzende Goldgeschäfte gemacht.
Illegales Gold
Damals war der Handel mit Feindgold noch für Deutsche verboten, und Bubis hatte eine Ausnahmegenehmigung. Bubis bekam Probleme mit der Steuer und sollte acht Millionen Mark nachzahlen, weil er die Herkunft des Metalls nicht nachweisen konnte.
Mit Hilfe von Degussa wurde die Steuernachforderung niedergeschlagen. Das Gold kam vermutlich illegal aus der Schweiz, und es ist nicht auszuschließen, dass es sich um jüdisches Raubgold handelte. Wolffsohn bekam die Akte nicht, weil die Familie von Bubis die Herausgabe ablehnte: Persönlichkeitsrechte.