Debatte zu Griechenland:Die deutschen Vorurteile

Debatte zu Griechenland: Illustration: Marc Herold

Illustration: Marc Herold

Warum nur tun sie das? Die Deutschen lassen sich in der Euro-Krise von ihren ungerechtfertigten Ängsten in die Irre leiten.

Gastbeitrag von Lorenzo Bini Smaghi

Lesen Sie den Text hier im Original - Accedi alla versione originale italiana.

Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel oft und zu Recht sagt, ist die Euro-Krise vor allem eine Vertrauenskrise. Ohne die Rückkehr des Vertrauens wird Europa die Krise nicht überwinden. Woher aber rührt das Misstrauen?

Bis Mitte Juli schien die Antwort ziemlich klar zu sein. In 18 der 19 Euro-Länder war vor allem das Vertrauen in die Fähigkeit der neuen griechischen Regierung verloren gegangen, die notwendigen Reformen durchzusetzen, um dem Land einen tragfähigen Verbleib im Euro zu ermöglichen. Nach Jahren gefälschter Statistiken, nicht erfüllter Verpflichtungen und nicht umgesetzter Reformen hatte die Tsipras-Regierung seit ihrer Wahl weiter nichts getan, als die Gläubiger zu beschuldigen und sich neuen Verpflichtungen zu entziehen. Der Höhepunkt wurde am 26. Juni erreicht, als der griechische Premier ein Referendum einberief und für das Nein warb. Wie war es möglich, unter diesen Umständen noch Vertrauen zu haben?

Gegenvorschlag, der nicht nur Taktik war

Nach dem Referendum am 5. Juli geschah das Unvorhergesehene. Alexis Tsipras kehrte nach Brüssel zurück und akzeptierte praktisch alle ihm gestellten Bedingungen. Er interpretierte den Ausgang des Referendums als Mandat, alles zu tun, um Griechenland im Euro zu halten. Innerhalb weniger Tage stimmte das griechische Parlament den von der Troika geforderten Reformmaßnahmen, den "prior actions", zu. Die anderen 18 Euro-Mitglieder hatten sich endlich durchgesetzt.

Der Autor

Lorenzo Bini Smaghi, 58, war sechs Jahre Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank. Der italienische Ökonom befasste sich in drei Büchern mit europäischen Fragen. Gegenwärtig ist Bini Smaghi Präsident des Gasnetzbetreibers Snam und der französischen Bank Société Générale.

In diesem Moment hat, statt sich über die späte griechische Besinnung zu freuen und rasch eine Einigung zum Abschluss zu bringen, eines der anderen 18 Länder einen Gegenvorschlag auf den Tisch gelegt: Deutschland. Dieser Gegenvorschlag sah einen fünfjährigen Ausschluss Griechenlands aus dem Euro vor. Anfangs maßen die anderen 17 dem keine allzu große Bedeutung bei. Sie hielten es für Verhandlungstaktik, vielleicht um den Druck zu erhöhen und so ein Abkommen zu beschleunigen. Dem war aber nicht so. Wolfgang Schäuble verlangte auf dem Ministertreffen der Euro-Gruppe, gestärkt durch einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung seines Landes, dass der Vorschlag den Staats- und Regierungschefs unterbreitet wird. Er tat dies gegen den Willen aller anderen Finanzminister, auch derjenigen, die in den Verhandlungen mit den Griechen noch härter aufgetreten waren als er selbst.

Wie konnte das sein? Ausgerechnet jetzt, nach dem Canossagang der Griechen, verlangen wir ihren Austritt aus dem Euro? Gegen ihren Willen? Ohne, dass Verträge es vorsehen? Ohne eine genaue Abschätzung der wirtschaftlichen und geopolitischen Folgen? Ohne einen Plan zur Stärkung des Zusammenhalts des restlichen Europa? Was ist der Sinn dieses Vorschlags? Warum legt man ihn den Regierungschefs vor und zwingt so eine isolierte Kanzlerin, den Vorschlag zurückzuziehen?

Mit Sicherheit trug die deutsche Volte dazu bei, das gegenseitige Vertrauen in Europa weiter auszuhöhlen. In wenigen Tagen schafften Deutschland und seine Führungsspitze es, den starken Konsens der 18 Länder in ihrer Haltung gegenüber Griechenland in ein ebenso ausgeprägtes Misstrauen und Skepsis gegen Deutschland zu verwandeln. Warum? Was will Deutschland in Europa wirklich? Welche Vision verfolgt es? Was hat es vor, um die anhaltende Instabilität zu überwinden? Diese Fragen beschäftigen den Rest Europas, auch wenn sie sich in der internen deutschen Debatte nicht widerspiegeln.

Versuchung ist groß, anderen die Schuld zu geben

Was nun? Was kann getan werden, um wieder Vertrauen aufzubauen? Es muss weitergemacht werden mit dem, was in der Vergangenheit die Grundlage des Integrationsprozesses gewesen ist. Es muss gemeinsam geprüft werden, was nicht funktioniert und welche Fehler begangen wurden. Man muss sich um neue Lösungen bemühen, um die Wiederholung der Irrtümer zu vermeiden. Diese Aufgabe ist kompliziert, denn in jedem Land ist die Versuchung groß, den anderen die Schuld zu geben. Die vorwiegend nationale Dimension der Politik und der Medien leistet den Meinungsgegensätzen Vorschub. Sie nährt so den Populismus und droht Europa zu spalten.

Fehler und Verantwortlichkeiten einzugestehen ist zudem schwierig, weil sie ungleich verteilt sind. Es genügt, sich die Zahlen aus den vergangenen sieben Jahren vor Augen zu führen, um festzustellen, dass einige Länder besser funktionieren und über effizientere wirtschaftliche, soziale und staatliche Systeme verfügen als andere. Die Bürde, die eigenen Probleme zu lösen und die Konvergenz zu fördern, lastet daher in erster Linie auf den Nachzüglern. Aber das reicht nicht.

Eine stabilere Wirtschafts- und Währungsunion kann nicht allein durch einen Prozess der Nachahmung entstehen, ohne dass die Systemeffekte berücksichtigt werden, die jedes einzelne Mitgliedsland erzeugt. Die Union ist mehr als die Summe ihrer einzelnen Mitglieder, und sie kann nicht allein mit individuellen Regeln geführt werden. Es ist auf der anderen Seite aber auch undenkbar, ein integriertes europäisches System zu schaffen, wenn nicht ein Mindestmaß gemeinsamer Regeln respektiert wird.

Wenn die deutsche Regierung die Option eines Grexit ins Spiel bringt, der im Übrigen vertraglich nicht vorgesehen ist, scheint sie zu glauben, dass die Probleme nur bei den anderen entstehen. Und dass es die beste Lösung ist, die Ursache des Problems zu beseitigen. Sie ignoriert dabei die selbstzerstörerischen Auswirkungen dieses Ansatzes. Ihr scheint eine klare Zukunftsvorstellung zu fehlen, die alle systemischen Aspekte berücksichtigt - einschließlich derjenigen, die sich aus den wirtschaftlichen Entwicklungen im eigenen Land ergeben.

Die Euro-Debatte

Sparen oder nicht? Schuldenschnitt - ja oder nein? Prominente Ökonomen diskutieren in der SZ über die Krise in Griechenland und was daraus für Europas Zukunft folgt. Alle bisherigen Beiträge - von Marcel Fratzscher, Hans-Werner Sinn, Ludger Schuknecht bis Jeffrey Sachs - finden Sie unter: www.sz.de/szdebatte-griechenland

Außerordentliche Stärke

Die deutsche Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren eine außerordentliche Stärke unter Beweis gestellt. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat das Vor-Krisen-Niveau viel früher wieder übertroffen als das amerikanische - gleichzeitig ist die Beschäftigungsquote höher und die Staatsschulden sinken. Das deutsche Wirtschaftssystem ist ein Vorbild. Doch das bedeutet nicht, dass die Lösung für jedes europäische Problem einfach darin besteht, deutsches Handeln zu imitieren. Europa wäre nicht unbedingt stärker und stabiler, wenn wir 19 Deutschlands hätten statt nur eines. Das Gegenteil träfe wahrscheinlich zu.

Aus diesem Grund ist eine Gesamtsicht erforderlich, die nicht einfach die Summe der nationalen Auffassungen ist. Und Deutschland kann sich aufgrund seiner relativen Größe und seines gegenwärtigen Erfolgs nicht der Verantwortung entziehen, eine solche Vorstellung zu entwickeln. Jedoch fehlt heute genau diese Vision. Dieser Mangel scheint die Frucht von Vorurteilen zu sein, die sich im Laufe der Zeit in Befürchtungen verwandelt haben, ja in Ängste. Solange sie nicht entzaubert werden, ist schwer vorstellbar, dass Europa vorankommen und seinen Wohlstand vereint bewahren kann.

Die erste Befürchtung ist, dass Deutschland für die Misswirtschaft der anderen Länder bezahlen muss. Vielleicht entspringt diese Sorge den Nachwirkungen der Wiedervereinigung, die den Transfer beträchtlicher Ressourcen von West nach Ost mit sich brachte. Was aber Europa angeht, ist sie nicht gerechtfertigt. Das gilt mit Sicherheit für die Vergangenheit, aber es gilt ebenso für jedes begründete Zukunftsszenario. Was die griechische Krise betrifft, so wird der deutsche Durchschnittsbürger selbst im schlimmsten Fall im gleichen Maß wie die anderen Europäer zu einer Rettung beitragen. Manche glauben sogar, dass Deutschland sehr viel weniger beiträgt, als es eigentlich müsste. Denn die deutschen Banken hatten Griechenland in einem weitaus größeren Umfang Kredite gewährt.

Die zweite Befürchtung ist, dass die europäischen Institutionen Entscheidungen treffen, die den deutschen Interessen zuwiderlaufen. Tatsache ist genau das Gegenteil. Alle Sorgen bezüglich der Geldpolitik der EZB, die über kurz oder lang zu einer Hyperinflation führen würde, erwiesen sich regelmäßig als irrig. Die Befürchtung, die Hilfen für Krisenländer schlügen sich in einer Lockerung der Haushaltspolitik nieder, stellte sich als ungerechtfertigt heraus. Die Erfahrungen mit Irland, Portugal und sogar mit Zypern zeigen, dass es richtig war zu helfen. Der deutsche Steuerzahler hat de facto gewonnen. Sicher, der Fall Griechenland ist noch offen. Aber reicht das, um die anderen Erfolge zu leugnen? Auch die Gründung der Bankenunion, die eine Gleichbehandlung garantiert, erweist sich als Erfolg.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Alle Fortschritte, die Europa auf der institutionellen und der gemeinsamen politischen Ebene gemacht hat, trugen zur Stabilität bei und nützten Deutschland (und den anderen Ländern). Sie widerlegen die deutschen Befürchtungen.

Auch die Sorge, die Geldpolitik der EZB bedrohe mit ihren niedrigen Zinsen die Stabilität des deutschen Rentensystems, führt in die Irre. Das Zinsniveau ist überall auf der Welt niedrig. Das Problem ist vielmehr der globale Überschuss der Ersparnisse gegenüber den Investitionen. Zu dem Problem trägt Deutschland systematisch mit einem Leistungsbilanzüberschuss in Höhe von acht Prozent bei, der eine deflationäre Wirkung hat. Die Entscheidung der deutschen Regierung, das Rentenalter herabzusetzen, verschärft die Situation noch weiter. So haben wir niedrige Zinsen, weil es in Europa und in der Welt nicht genügend öffentliche und private Investitionen gibt, die die wachsenden Ersparnisse absorbieren.

Diese Befürchtungen sind verbreitet. Sie sind vielleicht verständlich, aber nicht gerechtfertigt. Sie behindern das Entstehen eines Vertrauensklimas, das notwendig ist, um den vor 60 Jahren begonnenen Integrationsprozess voranzutreiben. Er hat Europa Frieden und Wohlstand gebracht. Jedes Land muss seinen Beitrag leisten, ohne zu glauben, das Problem ginge nur die anderen etwas an. Deutschland inbegriffen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: