Süddeutsche Zeitung

Debatte um Europa:Wer redet schon von Liebe - es geht um Realpolitik

Die EU, so wie wir sie kennen, ist am Ende. Jetzt ist es Zeit für eine vollständige politische Union der Euro-Zone.

Von Brendan Simms und Benjamin Zeeb

Wie soll es weitergehen mit der Euro-Zone? Auch nach den letzten Verhandlungsrunden zwischen Griechenland und seinen Gläubigern ist Europa von einer Antwort weit entfernt. Nur eines ist klar: Der Kompromiss ist weder für Griechen noch für Deutsche auf Dauer tragbar. Das Abkommen bringt weder Wachstumschancen für Griechenland, noch bietet es eine Erfolg versprechende Strategie zur Reform des von Korruption und Vetternwirtschaft gebeutelten griechischen Staatswesens.

Die Autoren

Brendan Simms ist Professor für die Geschichte der europäischen internationalen Beziehungen in Cambridge und Präsident des Projekts für eine Demokratische Union, PDU (www.democraticunion.eu). Benjamin Zeeb ist Geschäftsführer des PDU und Historiker.

So mag es nur ein paar Monate dauern, bis der Tanz um die Gemeinschaftswährung von Neuem beginnt. Bereits im Dezember wählen die Spanier eine neue Regierung; Spanien ist damit das nächste Krisenland, in dem sich die Parteienlandschaft nach Ausbruch der Euro-Krise fundamental verändert. Sie wird also noch stärker werden, diese lähmende Unsicherheit, die uns nun schon ein halbes Jahrzehnt begleitet, die unser europäisches Selbstbewusstsein sukzessive aufreibt, ausländische Investoren abschreckt, Moskau zu weiteren militärischen Abenteuern ermutigt und uns angesichts der humanitären Katastrophe an unseren Südgrenzen in Schockstarre verfallen lässt.

Die Meinung, dass eine Währungsunion nur dann funktionieren kann, wenn sie zugleich auch eine politische Union - und damit Transferunion - ist, hat sich bewahrheitet. In den Vereinigten Staaten hat man dies längst verstanden. Hier treten die Bürger reicherer Bundesstaaten wie New York oder Texas über Unionssteuern und Staatsausgaben jedes Jahr Hunderte Milliarden Dollar an weniger begünstigte Regionen ab und sichern so die Stabilität der gemeinsamen Währung. Das Beharren auf unerfüllbaren Regeln, in der Hoffnung, dass das Vertrauen in Europa irgendwann zurückkehren wird, bringt uns nicht weiter. Ebenso wenig wird eine immer lockerere Geldpolitik allein unsere Probleme lösen.

Drei Thesen

Das Problem: Griechenland und die Flüchtlingskrise überfordern die EU

Der Fakt: Eine Währungsunion funktioniert nur mit politischer Union

Die Lösung: Eine Vergemeinschaftung der Schulden und einheitliche Außenpolitik

Ein schwacher Kaiser, übermächtige Fürsten, ein blockiertes Parlament

Die einfache Wahrheit ist, dass die Tage der Europäischen Union gezählt sind. Angesichts der starken Rolle, die nationale Souveränität innerhalb der EU spielt, sollte sie eigentlich Europäische Konföderation heißen. Nun, da diese Konföderation erstmals ernsthaft getestet wird, sich innerer Zerrissenheit und externer Aggression gegenübersieht, stellt sich heraus, dass fromme Wünsche und legalistische Prozeduren für ihr Fortbestehen nicht reichen. In der Krise offenbart die EU ihr wahres Gesicht, und dies ähnelt einem alten Bekannten: dem Heiligen Römischen Reich. Mit einem schwachen Kaiser, übermächtigen Fürsten, sklerotischen Gerichten und blockiertem Parlament war das Reich unfähig, seinen überragenden Ressourcenreichtum zum Wohl seiner Bewohner zu mobilisieren. Letzten Endes zerfiel es unter dem Druck eines Krieges.

Es gibt Stimmen, die nun von Europa fordern, das Handtuch zu werfen und zum alten Nationalstaat zurückzukehren, jeder mit eigener Währung und Zentralbank. So unschön dies von europäischer Warte aus erscheinen mag, im Gegensatz zur gegenwärtigen Strategie der Euro-Gruppe, die eine weitgehende wirtschaftliche Homogenisierung aller Mitglieder der Euro-Zone nach deutschem Vorbild vorsieht und dabei vollkommen den Boden der Tatsachen verlassen hat, ist die "nationalstaatliche Lösung" wenigstens theoretisch denkbar.

Die extremsten Versionen dieser Idee, durchzogen von nationalistischem Gedankengut und einer feindlichen Grundhaltung gegenüber den europäischen Nachbarn, verbreitet die Euro-skeptische Rechte. Geert Wilders, Marine Le Pen, Frauke Petry, Nigel Farage, sie alle sehen den Zusammenbruch der EU als wünschenswertes und unumgängliches Finale des fehlgeleiteten europäischen Projekts. Sie betonen kulturchauvinistische Aspekte, Rasse und Identität, verteufeln jede Immigration und lassen selbst ein Mindestmaß an Solidarität, Mitgefühl und Intelligenz vermissen. Sich damit auseinanderzusetzen ist reine Zeitverschwendung.

Sollte Griechenland austreten, entstünde ein politisches Vakuum

Allerdings sollte man jene ernst nehmen, die aus strukturellen Gründen den Euro-Austritt Griechenlands befürworten, etwa Hans-Werner Sinn mit seiner Idee eines Austritts mit Schuldenschnitt und bilateralen Hilfen. Das Konzept geht davon aus, dass Griechenland lediglich Zeit benötigt, um sich außerhalb der Gemeinschaftswährung zu reformieren. Nach etwa fünf bis zehn Jahren könne das Land dann wieder dem Euro beitreten.

Wenngleich dieser Gedanke aus rein ökonomischer Perspektive sinnvoll erscheinen mag, glauben wir nicht, dass Griechenland durch eine Rückkehr zu eben jenen Verhältnissen geholfen wäre, denen das Land ja einst durch den Beitritt zum Euro entkommen wollte. Bei den Austrittsdebatten geht es ohnehin weniger um rein ökonomische Fragen als um eine europäische Gesamtstrategie. Bereits jetzt hat Griechenland die Karte einer Annäherung an Russland gespielt. Sollte das Land tatsächlich austreten, entstünde ein geopolitisches Vakuum, das nicht nur Russland, sondern auch China und andere zum Schaden Europas nutzen könnten. In der deutschen Öffentlichkeit spielen solche außenpolitischen Überlegungen keine große Rolle. Die EU-Osterweiterung und die feste Einbindung in die Nato haben Deutschland geografisch zum ersten Mal komfortabel inmitten anderer Demokratien eingebettet und es unempfindlich werden lassen für neue Gefahren.

Die Euro-Debatte

Sparen oder nicht? Schuldenschnitt - ja oder nein? Prominente Ökonomen diskutieren in der SZ über die Krise in Griechenland und was daraus für Europas Zukunft folgt. Alle bisherigen Beiträge - von Marcel Fratzscher, Hans-Werner Sinn, Ludger Schuknecht bis Jeffrey Sachs - finden Sie unter: www.sz.de/szdebatte-griechenland

Noch bedenklicher ist, dass bei einem Zusammenbruch der Euro-Zone die "Deutsche Frage" wieder mit aller Macht auf den Plan zu treten droht. Über Jahrhunderte wurde die europäische Geschichte von einem Kampf um Deutschland geprägt. Mal waren die Deutschen zu schwach, wie etwa während des Dreißigjährigen Krieges, als fremde Armeen die deutschen Lande in Schutt und Asche legten. Dann, etwa von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, wurde Deutschland zu stark und bald zum Ausgangspunkt für zwei verheerende Kriege. Mit der EU gelang es, Deutschland einzuhegen, die Deutschen selbst haben sich grundsätzlich gewandelt. Das strukturelle Dilemma jedoch besteht weiter und droht bei einem Scheitern der EU Deutschland und Europa, insbesondere Deutschland und Frankreich, aufs Neue gegeneinander aufzubringen.

Wachsende Risiken, sowohl auf den Finanzmärkten als auch geopolitischer Art, und das zeitgleiche Erstarken des Euro-skeptischen Populismus zeigen, dass sich die Politik des Abwartens nicht mehr lange wird fortsetzen lassen. Da sich die Perspektive eines Grexit, oder gleich mehrerer Euro-Austritte von Mitgliedsländern, als äußerst unerfreulich darstellt, bleibt nur eine logische Konsequenz: die Gründung eines föderalen Systems auf Grundlage der Euro-Zone.

Seit Jahrzehnten gibt es diese Idee, ebenso lange wird sie schon belächelt. Als Projekt von Traumtänzern und radikalen Idealisten, manche von ihnen pensionierte Staatschefs, die auf ihre alten Tage etwas zu kreativ geworden sind. Es mutet also ein wenig ironisch an, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem der vermeintlich grandiose Traum robuster erscheint als alle anderen Vorschläge.

Die Logik ist einfach: Sobald man das Unmögliche ausgeschlossen und die Rückkehr zur Kleinstaaterei als offensichtlich schädlich verworfen hat, muss - was auch immer dann am Ende übrig bleibt - die vollständige demokratische Union die einzige Option sein, ganz gleich wie unwahrscheinlich das klingen mag. Oder mit den Worten von Sherlock Holmes: "Elementary, my dear Schäuble."

Europa sollte sich die USA zum Vorbild nehmen

Was die konstitutionelle Ausgestaltung angeht, können wir Europäer auf zwei Präzedenzfälle zurückblicken. Einmal den Act of Union von 1707, den damals England und Schottland schlossen, um sich besser gegen gemeinsame Gefahren verteidigen zu können. Zweitens die Vereinigten Staaten von Amerika. In beiden Fällen kam es zur Vergemeinschaftung von Schulden und einer einheitlichen Außenpolitik auf der Basis gemeinschaftlicher parlamentarischer Repräsentation.

Das Konzept, wonach die europäische Integration als langer gradueller Prozess begriffen wird, ist gescheitert. Über Jahrhunderte wurde auch im Heiligen Römischen Reich die sogenannte Reichsreformdebatte geführt. Ohne Ergebnis.

Auch die EU wurde konstruiert, um Macht zu zerstreuen, statt sie zu konzentrieren und in die Hände legitimer Repräsentanten zu legen. In ihrer jetzigen Form fehlen ihr die Mittel, um einen entscheidenden Wandel herbeizuführen. Folglich müssen wir Europäer gemeinsam einen Moment der Konsolidierung schaffen, der uns auf einen Schlag in die Lage versetzt, uns unseren zahlreichen Problemen zu stellen.

Aber was ist mit den Menschen? Die Skepsis gegenüber Europa ist so hoch wie nie. Sind wir wirklich bereit für einen solchen Schritt? Zunächst muss klar sein, dass die politische Union nicht gleichbedeutend ist mit der Aufgabe nationaler Identität. Zweitens haben die Nationalstaaten mit ihrem Beitritt zum Euro und den daraus entstandenen Zwängen ihre Souveränität bereits weitgehend aufgegeben. Die kümmerlichen Überreste, abgeschliffen im Brüssler Politbetrieb, taugen nur noch zum europäischen Bremsklotz. Wirkliche Teilhabe gibt es in Europafragen schon lange nicht mehr. Die Union würde den Bürgern also nichts wegnehmen. Im Gegenteil, sie würden Mitsprache zurückgewinnen. Die Grundlage dafür sind gewählte Repräsentanten, die direkt ihren Wahlkreisen verantwortlich sind, und in einem Europäischen Parlament, das über tatsächliche Macht verfügt, den weiteren Kurs des Kontinents bestimmen.

Europa braucht nicht vorrangig eine gemeinsame Zivilgesellschaft. Ähnlich wie bei den Schotten und den Engländern, die sich trotz aller Differenzen, dreihundert Jahre nach dem Act of Union kürzlich dafür entschieden, ihren Bund zu erneuern, geht es nicht um eine Liebesheirat. Es geht um Realpolitik. Es geht darum, endlich Strukturen zu schaffen, die es uns ermöglichen, das europäische Versprechen von Frieden, Wohlstand, Sicherheit und Solidarität Wirklichkeit werden zu lassen.

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Quelle:
SZ vom 05.09.2015/sana
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