Süddeutsche Zeitung

Debatte um Corona-Anleihen:"Nicht erst die Scherben aufkehren"

Immer mehr Ökonomen verabschieden sich von alten Rezepten der Wirtschaftspolitik. Allen voran der Chef-Ratgeber der deutschen Arbeitgeber, Michael Hüther.

Von Marc Beise

Es ist nicht so, dass Michael Hüther die Frage nicht hat kommen sehen. Ausgerechnet er, der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), macht sich für die Aufhebung der Schuldenbremse, für einen schuldenfinanzierten Krisenfonds und sogar für europaweite Corona-Anleihen stark - also für so ziemlich alles, was deutsche Arbeitgeber seit Jahren vehement bekämpft haben: Was ist da passiert?

Also, sagt Hüther, erstens bleibe er sich ja treu. Schließlich habe er schon 2012, in der Euro-Krise, im Interview mit der Süddeutschen Zeitung massives staatliches Engagement gefordert. Damals hatte sich der heute 57-jährige Wirtschaftsprofessor für eine vorübergehende Teilverstaatlichung europäischer Banken ausgesprochen. Das sei für einen liberalen Ökonomen doch ein gewaltiger Tabubruch, wunderte sich der Interviewer, und Hüther entgegnete: "Welche Alternative haben wir denn? Ich will ja auch keine Staatsbanken. Aber ich will das kleinere Übel. Hier steht das Risiko eines Zusammenbruchs des Systems gegen einen befristeten Staatseinstieg. Es wäre doch völlig unverantwortlich, dieses Risiko zu sehen und nichts zu tun. Wir dürfen die Augen davor nicht verschließen. Besser jetzt über den eigenen Schatten springen, als später die Scherben aufsammeln."

Davon habe er heute nichts zurückzunehmen. Die Wirtschaft steht in Folge der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie weltweit am Abgrund, selbst für das wirtschaftsstarke Deutschland erwarten die Forschungsinstitute einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um mindestens fünf, im schlimmsten Fall um 20 Prozent. Nicht nur die Europäische Zentralbank (EZB) ist tief besorgt und hat beinahe unbegrenzte Hilfe versprochen, auch die europäischen Finanzminister kennen kein Halten mehr. Namentlich Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), der in seiner eigenen Partei als Sparminister verrufen ist, budgetiert neue Schulden in großem Umfang.

Allerdings bleibt Scholz bisher insofern stur, als er im Einklang mit Kanzlerin Angela Merkel und vielen führenden CDU/CSU-Politikern gemeinsame europäische Anleihen ablehnt, sogenannte Euro-Bonds, jetzt auch Corona-Bonds genannt. Das starke Deutschland haftet notfalls für das schwache Italien? So war das bei der Einführung des Euro nicht gedacht, und vor allem die deutschen Arbeitgeber sind traditionell vehement dagegen. Aber, das ist Hüthers zweiter Punkt, man dürfe die Unternehmer auch nicht unterschätzen. Die könnten sich sehr wohl neuen Gegebenheiten anpassen. So stehe der Industrie-Dachverband BDI klar hinter ihm.

Dessen wichtiger Landesverband allerdings, die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), die die Unternehmen im wirtschaftlich stärksten deutschen Bundesland vertritt, ist ganz und gar nicht Hüthers Meinung. Die Idee von Euro- oder Corona-Bonds sei "nicht neu, bleibt aber genauso falsch wie während der Finanz- und Wirtschaftskrise", sagt Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt. Sein Wort hat Gewicht. Brossardt ist ein einflussreicher Mann in Bayern, ohne ihn läuft im Süden nichts im Austausch von Wirtschaft und Politik.

"Der Vergemeinschaftung von Schulden und Haftungsrisiken erteilen wir eine klare Absage", so Brossardt klipp und klar. "Die EU ist eine Solidargemeinschaft und keine Haftungsunion. Haftung und Verantwortung dürfen nicht getrennt werden. Die Eurozone darf keine Transferunion werden." Natürlich sei die Bewältigung der Corona-Krise eine gemeinschaftliche Aufgabe, aber Deutschland helfe seinen Nachbarn mit Material und nehme Patienten auf: "Das ist gelebte Solidarität." Und um den aktuellen Finanzbedarf zu decken, gebe es bewährte Instrumente. "Die Europäische Kommission kann Haushaltsmittel umschichten, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) kann von der Krise betroffenen Ländern effektiv helfen, und die Europäische Investitionsbank hat Möglichkeiten, stützend einzugreifen." Hüther jedenfalls, so kann man das interpretieren, ist komplett auf dem Holzweg.

Es gibt auch Widerspruch. Der Chef der Sachverständigen lehnt vergemeinschaftete Schulden ab

So würde Brossardt das allerdings nie sagen -wohl aber andere. Der Verband der Familienunternehmer und der Außenhandelsverband BGA lassen ihrem Unmut freien Lauf. Sie greifen den bisherigen Verbündeten Hüther frontal an und nennen seine Ideen "vollkommen destruktiv". Bislang sei das IW stets ein Garant für eine "solide und vorausschauende Wirtschaftspolitik" gewesen; diese Position "steht nun infrage", schrieben die beiden Verbandspräsidenten Reinhold von Eben-Worlée und Holger Bingmann kürzlich in einem Brief: "Akademisch durchgerechnet, aber politisch naiv" - und da war von Corona-Bonds noch nicht einmal die Rede.

Hüther hatte die Familienunternehmer mit seinem Vorschlag für einen schuldenfinanzierten Fonds erzürnt, den er gemeinsam mit dem gewerkschaftsnahen Wirtschaftsinstitut IMK präsentiert hatte, ausgerechnet. Der Bund solle einen schuldenfinanzierten Investitionsfonds in Höhe von 450 Milliarden Euro auflegen, um damit - verteilt über zehn Jahre - Schulen, Schienen und Straßen zu renovieren und gleichzeitig Energiewende und Digitalisierung zu puschen. Auch diese Idee hatte Hüther 2011 schon einmal verbreitet, jetzt aber schlug sie voll ein. Unter Unternehmern, bei Union und FDP fragten sich manche, was eigentlich in den Mann gefahren sei?

Der wiederum kann sich vor neuen Freunden nicht retten. SPD und Grüne sind zufrieden, und bisher eher abseits stehende Professorenkollegen scharen sich um den Wirtschaftsmann. Wiederholt agiert er jetzt zusammen mit dem ehemaligen Wirtschaftsweisen Peter Bofinger, für Konservative ein bewährt-rotes Tuch. Der Würzburger Hochschullehrer war viele Jahre im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Mann fürs Minderheitenvotum. Wenn die Vierer-Mehrheit in ihren Gutachten eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik forderte, Steuersenkungen für Unternehmen und weniger neue Sozialleistungen, dann war Bofinger zuverlässig anderer Meinung. Nach seinem Ausscheiden blieb die Hackordnung im vornehmsten Beratungsgremium der Bundesregierung bestehen, jetzt heißt der "Linke" Achim Truger. Die beiden Platzhirsche Lars Feld und Volker Wieland hatten zuletzt eine knappe Mehrheit, zwei Positionen waren nicht besetzt. Seit Mittwoch dieser Woche allerdings ist das anders: Erstmals sind mit Veronika Grimm und Monika Schnitzer zwei Frauen im Rat, die sich bald positionieren werden.

Breite Zustimmung zur Schuldenpolitik der Bundesregierung

Bei den Corona-Bonds gibt es für den Ratsvorsitzenden Feld kein Vertun: Er ist strikt dagegen und will Italien mit den etablierten Mechanismen wie dem Rettungsschirm ESM helfen. "Eine Vergemeinschaftung der Schulden lehne ich ab", sagt Feld. In Freiburg, wo er das Walter-Eucken-Institut leitet, hat er in Lüder Gerken, dem Vorstandsvorsitzenden des Centrums für Europäische Politik (CEP), einen kompromisslosen Verbündeten: "Die Debatte um Corona-Bonds ist eine Phantomdiskussion, die von den südeuropäischen Ländern gezielt forciert wird. Allerdings hat bisher noch niemand erklärt, wie solche Bonds von der Corona-Krise besonders betroffenen Ländern schnell helfen können", sagt Gerken. "Vielmehr sollten die Kreditlinien des ESM aktiviert werden. Für Fälle wie den jetzigen sind sie ja geschaffen worden. Sie sind, anders als Corona-Bonds, nicht nur sofort einsetzbar, sondern lassen sich auch sehr viel besser zielgerichtet einsetzen und auch leichter zurückführen, wenn die Krise beendet ist."

Aber in der öffentlichen Präsenz geraten Feld, Gerken und einige andere ins Hintertreffen. Immer mehr bekannte Professoren, auch die Präsidenten wichtiger Wirtschaftsforschungsinstitute wie Clemens Fuest (Ifo in München), Marcel Fratzscher (DIW in Berlin) und Gabriel Felbermayr (IfW in Kiel) sprechen sich mehr oder weniger offensiv für Corona-Bonds aus.

Viele der Vorgenannten haben sich auch an einer deutsch-italienischen Wissenschaftler-Initiative beteiligt, die von den Regierungen fast schon verzweifelt gemeinsame Maßnahmen fordert; auch hier ist IW-Hüther dabei.

Gerken nennt das den "Toilettenpapier-Moment: Alle sind dafür, dann ich auch". Wobei: Alle ist dann doch wieder übertrieben. Das soeben vorgestellte Meinungsbild im Ökonomenpanel, das das Münchner Ifo-Institut regelmäßig zusammen mit der FAZ erstellt, zeigt ein differenziertes Bild. Insgesamt 155 Professoren nahmen an der Befragung teil. Für eine einmalige Schuldenaufnahme zur Bekämpfung der Corona-Krise gibt es derzeit eine hauchdünne Mehrheit von 46 Prozent, 43 Prozent lehnen solche Corona-Bonds ab. Das Anleihe-Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank dagegen über 750 Milliarden Euro, auch so etwas wäre früher heiß umstritten gewesen, begrüßen 48 Prozent, nur 20 Prozent sind dagegen.

Übrigens: Den von Olaf Scholz vorgelegten Nachtragshaushalt über 156 Milliarden Euro, von Bundestag- und Bundesrat in der vergangenen Woche einvernehmlich beschlossen, finden zwei Drittel der Befragten angemessen. Ifo-Professor Niklas Potrafke schafft es sogar, argumentativ altes und neues Denken zusammenzubringen: "Nun zeigt sich, wie wichtig es war, den Rufen nach mehr Schulden in den letzten Jahren eine Absage erteilt zu haben. Jetzt haben wir wirklich eine Notsituation - und den Spielraum, um reagieren zu können."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4865874
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 03.04.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.