Dax:Boom ohne Bürger

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Am Dienstag ist der Dax erstmals über 20 000 Punkte gestiegen. (Foto: Daniel Roland/AFP)

Stell dir vor, der Dax steigt auf mehr als 20 000 Punkte und keiner hat was davon. Warum die Deutschen beim Geldanlegen so rückständig sind.

Kommentar von Harald Freiberger

Man muss im eigenen Gedächtnis tief graben, um zu ergründen, was man in jüngeren Jahren eigentlich so alles an Finanzbildung mitbekommen hat. Da gab es den Mann von der Sparkasse, der einmal im Jahr in die Grundschule kam, um die blecherne Sparbüchse der Schüler zu leeren und die Summe auf dem Sparbuch gutzuschreiben. Ein Guthaben von fünf D-Mark hatte man schon zur Geburt geschenkt bekommen.

Später veranstaltete die Sparkasse ein Börsenspiel, bei dem jeder virtuell eine Handvoll Aktien auswählen konnte. Sieger war derjenige, dessen Kurse sich nach einem halben Jahr am besten entwickelt hatten. Am Gymnasium gab es dann noch ein Jahr lang Wirtschaft und Recht als Unterrichtsfach, von dem man nur in Erinnerung hat, dass irgendwie die Funktionsweise eines Wechsels erklärt wurde.

Mit 20 verstand man von Wirtschaft und Finanzen ungefähr so viel wie von Einsteins Relativitätstheorie. Geldanlegen und Sparen, das war etwas für die anderen. Es fehlte jegliches Verständnis dafür, dass dies alles mit dem eigenen Leben zu tun haben könnte. Tatsächlich ist das Verständnis dafür jedoch ziemlich wichtig, weil jeder Mensch abhängig ist von der Sicherheit seines Arbeitsplatzes, seiner Gesundheitsversorgung oder seiner Rente und Altersvorsorge.

Es würde vielen Menschen besser gehen, wenn sie sich mit Finanzen auskennen würden

Und damit zum Dax, dem deutschen Börsenbarometer, das am Montag erstmals in seiner 36-jährigen Historie die Marke von 20 000 Punkten übersprungen hat. Die Nachricht sorgte für einiges Aufsehen, und viele fragten sich, wie es der Börse so gut gehen kann, wo es uns doch allen so schlecht geht. Dabei besteht zwischen beidem ein direkter Zusammenhang: Es würde viel mehr Menschen besser gehen, wenn sie mit Dax, Börse, Finanzen und dem ganzen Wirtschaftsdings nicht so fremdeln würden.

Stell dir vor, der Dax steigt über 20 000, und kaum jemand hat was davon. Nach den letzten Zahlen besaßen 12,3 Millionen Bundesbürger Aktien, Aktienfonds oder ETFs, die Indizes wie den Dax abbilden. Das sind 17,6 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren, also rund jeder Sechste. Eine verschwindend geringe Quote, wenn man es mit Ländern wie den USA, Großbritannien, Schweden oder Norwegen vergleicht, wo häufig mehr als jeder Zweite seine Altersvorsorge auf Aktien aufgebaut hat.

In Deutschland dominiert dagegen die Vorstellung, bei der Börse handle es sich um ein Finanzcasino, um eine reine Zockerbude, in der sich einige wenige Reiche auf Kosten aller noch mehr bereichern. Das ist eine stark verzerrte Sicht auf die Realität. Denn in Wirklichkeit handelt es sich bei der Börse um einen Spiegel der weltweiten Wirtschaft, der zwar kurzfristig ebenfalls verzerrt sein kann, langfristig aber die Realität originalgetreu abbildet. Und diese Realität sagt, dass die weltweite Wirtschaft seit Jahrhunderten immer weiter wächst, weil die Menschen danach streben, ihre materielle Lage zu verbessern.

Bezeichnend war die Diskussion um die Aktienrente, die sich mit dem Aus der Ampel nun ohnehin erübrigt hat. Ein staatlich organisierter Fonds auf der Basis von Aktien mit niedrigen Gebühren nach norwegischem Vorbild wäre dringend nötig als zusätzliche Altersvorsorge für das absehbar kaum zu haltende Niveau der gesetzlichen Rente – statt Riester-Rente, Investmentfonds oder Versicherungen, bei denen die Gebühren meist jegliche Rendite zunichtemachen. Doch der Vorschlag wird zerredet mit dem Argument, man wolle die Altersvorsorge der Bundesbürger nicht „an der Börse verzocken lassen“.

Dabei ist es genau umgekehrt: An der Börse und den Unternehmen, die sie repräsentieren, hängt auch alles andere. Wenn die Wirtschaft nicht mehr läuft, sieht es bald auch schlecht aus mit der Sicherheit der Arbeitsplätze, der Gesundheitsversorgung und der Renten. Der Dax besteht aus den 40 größten deutschen Aktiengesellschaften, die allein Millionen Arbeitsplätze auf sich vereinigen. Jeder Bundesbürger ist schon Teil des Dax und der weltweiten Wirtschaft – aber investieren will man nicht in sie?

Das sind Zusammenhänge, die man auch einmal im deutschen Schulsystem vermitteln könnte. Aber im Land von Schiller und Goethe gilt alles, was mit Wirtschaft zu tun hat, als etwas, das man am besten gar nicht anfasst. Nichts gegen Goethe und Schiller, aber daher kommt die Unkenntnis vieler Bundesbürger und die fatale Einstellung, die Wirtschaft und das Geschehen an der Börse seien nur etwas für die anderen.

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