Süddeutsche Zeitung

Unternehmensführung:Die große Verunsicherung der deutschen Manager

Das Weltgeschehen mit seinem rasanten Wandel überfordert viele Firmenleiter. Die Unternehmen geraten zunehmend in die Defensive. Das ist gefährlich.

Von Karl-Heinz Büschemann

Was ist nur mit den Dax-Konzernen los? In scheinbar jedem Unternehmen in der führenden Börsenliga herrscht Unruhe oder Unsicherheit. Der einst bärenstarke Bayer-Konzern hat sich mit dem Erwerb des US-Unternehmens Monsanto in Rekordzeit in eine kritische Lage manövriert. Die Deutsche Bank hat einen furchtbaren Absturz in die globale Bedeutungslosigkeit hinter sich. Die Autokonzerne VW, Daimler und BMW machen den Eindruck, vom richtigen Weg in die Zukunft noch weit entfernt zu sein. Die Energiekonzerne RWE oder Eon sind nur noch Schatten ihrer selbst. Thyssenkrupp torkelt mit wechselnden Strategien durch die Märkte. Und Linde löscht sich aus Angst vor der Übernahme durch Konkurrenten faktisch selbst aus, indem der Konzern sich einem US-Konkurrenten an den Hals wirft.

Die Zeiten sind ungewohnt hart geworden für Unternehmenschefs: Superschnell entstehende neue Technologien stürzen bewährte Geschäftsmodelle. Aggressive Aktionäre, unberechenbare Politiker in Amerika oder Europa, die wachsende Übermacht Chinas oder von Digitalkonzernen wie Amazon setzen Entscheider unter nie gekannten Druck. Wo der freie Welthandel in Gefahr gerät, ist es für Manager schwer, Überblick und Nerven zu behalten. Fatalerweise führt die Verunsicherung zu wachsender Lähmung: Der Finanzvorstand eines großen Dax-Konzerns gibt in kleiner Runde zu, dass die schnellen Veränderungen des Umfeldes auch erfolgreiche Unternehmen lähmen: "Wir warten, wir verschieben Entscheidungen." Selbst erfolgreiche Mittelständler leiden zunehmend unter chronischer Verunsicherung. Das hat offenbar schon messbare Folgen: Vor einigen Tagen meldete die Beratungsgesellschaft Ernst & Young (E&Y), deutsche und europäische Unternehmen fielen im Verhältnis zu den amerikanischen Konzernen zurück.

"Bei den Entscheidern wachsen die Sorgen"

Die Manager sind zunehmend Getriebene, ausgerechnet wenn es darauf ankommt, kühlen Kopf zu bewahren. Wohl noch nie waren Firmenleiter so verunsichert wie sie es in diesen Zeiten der schnellen technologischen Brüche und der politischen Wirrnisse sind. "Bei den Entscheidern wachsen die Sorgen", beobachtet Dominic Veken. Der Experte für Strategie und Unternehmenskultur macht sich als Chef der zur Boston Consulting Group gehörenden Beratungsgesellschaft Brighthouse Gedanken darüber, wie die verunsicherten Chefs es vermeiden könnten, die Orientierung zu verlieren. In Unternehmen "verbreitet sich zunehmend das Gefühl, in der Defensive zu sein." Manche sprechen sogar von Angst. Und das in einer Zeit, in der die Konjunktur zuletzt so gut lief wie selten zuvor.

Ihre Welt sei unübersichtlich geworden, beklagen die Entscheider. Sie wissen offenbar nicht mehr, was sie noch tun können. Nur ein kleines Beispiel: Der Münchner Autohersteller BMW wollte auf den für März angekündigten Austritt der Briten aus der EU besonders umsichtig reagieren und beschloss, die Sommerferien für die Fabriken in England auf die Wochen nach dem geplanten Ausscheiden vorzuziehen. Die befürchteten Verwerfungen der Abspaltung sollten so klein wie möglich gehalten werden. Die teure Vorsichtsmaßnahme war unnötig, weil die chaotischen Briten den Austritt verschoben.

Die alten Gewissheiten der Unternehmensführung gelten nicht mehr. Die Lehrbücher helfen nicht mehr weiter. Stets wussten die Chefs wenigstens ungefähr, was passiert, wenn sie eine bestimmte Maßnahme ergreifen. Inzwischen berichten sie von dem Gefühl, den festen Boden unter den Füßen verloren zu haben. Besonders deutlich wird das bei den Autokonzernen, die mittlerweile von Wettbewerbern bedroht sind, die es vor einigen Jahren noch gar nicht gab. Burkhard Schwenker, der frühere Chef der deutschen Beratungsgesellschaft Roland Berger, kennt diese Sorgen. "Für mehr als vier Fünftel der Spitzenmanager ist Ungewissheit heute das bestimmende Element ihrer Arbeit." Die Entscheider könnten ihre Planungsinstrumente nicht mehr seriös anwenden, sagt Schwenker. "Worauf soll ich meine Wettbewerbsanalyse stützen, wenn ich nicht mal weiß, wer morgen mein Wettbewerber ist?"

Diese neue Erfahrung sorgt für Nervosität, die von den Chefetagen und Aufsichtsräten bis in die unteren Ränge als schleichendes Gift sickert. Aber Nervosität und Hektik sind keine guten Ratgeber. Vielleicht fragt sich Bayer-Chef Werner Baumann inzwischen, ob er den US-Saatgutkonzern Monsanto übereilt gekauft hat. Die Entscheidung für die Übernahme fiel im Jahr 2016, nur wenige Wochen nachdem Baumann den Chefposten in Leverkusen angetreten hatte. Jetzt bringt diese eilige Milliardenübernahme den ganzen Konzern zum Straucheln.

Flucht in die Daten

Aber wie reagieren die Chefs, wenn ihre Entscheidungen immer weniger zum Erfolg führen? Sie suchen mehr Sicherheit für ihre Arbeit in mehr Daten von den Märkten und noch mehr Kontrolle im Unternehmen. Das aber führt ins nächste Dilemma: So werden Firmen unbeweglich. Wo die Märkte sich immer schneller verändern, werden die Entscheidungen langsamer.

Hartmut Rosa, Soziologe der Universität Jena, hat mit seiner wissenschaftlichen Arbeit über die lähmende Wirkung von immer schnelleren Veränderungen der Umwelt auf Organisationen für Aufmerksamkeit gesorgt. Wo die Notwendigkeit zu schnellem Handeln wachse, der zunehmende Wust an Daten aber längere Handlungs- und Reaktionszeiten verlange, sinke "der Rationalitätsstandard", so Rosa. Aus dem Soziologendeutsch in die Umgangssprache übersetzt heißt das: Die Zahl der Fehlentscheidungen steigt.

Wo immer mehr Daten und Variablen bedacht werden sollen, agieren und reparieren Manager immer hektischer - mit abnehmendem Erfolg. Rosa spricht vom "organisatorischen Kammerflimmern". Mediziner verwenden diesen Begriff, wenn sie sagen wollen, dass ein menschliches Herz zwar wie wild pumpt, aber kein Blut mehr transportiert und der Patient in Lebensgefahr schwebt. Vielleicht hatten die Strategen des französisch-japanischen Autokonzerne Renault-Nissan diese Sorge, als sie kürzlich die Idee verwarfen, mit dem italienisch-amerikanischen Wettbewerber Fiat-Chrysler zusammenzugehen. Der bei Managern beliebte Gedanke, komplizierter werdende Märkte mit größerer Marktmacht und die Entwicklung neuer Technologien mit einer gemeinsamer Milliardenkasse anzugehen, musste nach kurzer Überlegung der Ernüchterung Platz machen, dass ein solcher Konzern-Krake kaum zu führen sein wird.

Da sich die Experten darin einig zu sein scheinen, dass heute die Herausforderungen an Unternehmensführungen schneller wachsen als in früheren Zeiten, kann die Lösung nicht sein, darauf zu warten, dass sich die Dinge eines Tages normalisieren und das Veränderungstempo wieder abnehmen wird. Es wird nicht funktionieren, auf das Ende des Unwetters zu warten. Der Sturm wird zur Dauererscheinung werden, zumal sich mit China ein neuer globaler Wettbewerber erhebt, der selbst mit beachtlicher Geschwindigkeit den technischen Wandel vorantreibt und den bisher etablierten Wirtschaftszonen der Welt sein schwindelerregendes Tempo aufzwingt.

Aber wo liegt die Lösung?

Eine Chance, der Geschwindigkeitsfalle zu entkommen, wäre es, die alten Hierarchien aufzulösen. Die noch vom preußischen Militär herrührende Kommandoorganisation der klassischen Unternehmen, in der klar von oben nach unten befohlen wird, funktioniert nicht mehr. Wenn das bekannte Peter-Prinzip zutrifft, wonach ein Mensch im Beruf so lange aufsteigt, bis er den Posten erreicht hat, für den er nicht mehr geeignet ist, kann man von Firmenspitzen nicht viel Erleuchtendes erwarten. Oben sitzen in der Regel Herrschaften, die neue Technologien und Entwicklungen der Märkte am wenigsten verstehen. Also sollten nicht sie vorgeben, welche Werkzeuge die richtigen sind für eine erfolgreiche Zukunft. Der Fall des streng autoritär geführten VW-Konzerns hat ausreichend belegt, dass eine Kommandoorganisation an den Abgrund, aber nicht in die Zukunft führt.

Eine Firmenkultur mit Zukunft wird nur die sein, die es erlaubt, Ideen von unten nach oben durchzureichen. Mögen die Chefs ganz oben die großen Linien einer Strategie vorgeben. Sie müssen der wachsenden Geschwindigkeit der Veränderungen die Verlangsamung ihrer Entscheidungen entgegensetzen. Sie mischen sich nicht - wie heute vielfach üblich - ins Tagesgeschäft ein, sondern geben nur die große Richtung vor und bleiben dabei, auch wenn es mal stürmt. Sie bilden das stabile Rückgrat einer Organisation, das den Mitarbeitern Halt gibt und die Sicherheit, dass es sinnvoll ist, für dieses Unternehmen zu arbeiten.

Doch die Entscheidungen, mit welchen konkreten Mitteln das angepeilte Ziel erreicht werden kann, muss bei denen fallen, die etwas von den Märkten und den Technologien verstehen. Also den unteren Rängen. Das Chefprinzip des alten Clausewitz hat ausgedient.

Ausgerechnet die Chinesen machen es vor. Obwohl die chinesische Wirtschaft vom Staat zentral gelenkt wird, nutzt Peking die Ideen und Innovationen von Millionen kleiner Firmen, um die aufstrebende Riesenvolkswirtschaft anzutreiben. Selbst die chinesische Diktatur nutzt die kreativen Möglichkeiten von Märkten besser als die klassischen Marktwirtschaften des Westens. Davon kann der Westen lernen, indem die Konzernstrategen zur Kenntnis nehmen, dass sie im eigenen Haus mehr kreatives Chaos zulassen müssen, um die Produkt- und Geschäftsideen heranwachsen zu lassen, die am Ende zum Erfolg führen.

Gerade in der deutschen Wirtschaft herrscht noch immer das kulturelle Ideal der möglichst perfekten Planung vor. "Wir brauchen eine Technologie der Verrücktheit", hält der Unternehmenskulturberater Dominic Veken dem entgegen. Die Schaffung einer solchen Kultur des Aufbruchs und des Optimismus verlangt aber Mut, der im Moment zu fehlen scheint. Wo Angst und Hektik herrschen, wird sie nie entstehen.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2019/eca
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