David Ricardo:David der Große

David Ricardo

David Ricardo lebte von 1772 bis 1823. Sein wichtigstes Werk erschien am 19. April 1817. Er entwirft darin die Theorie von den "komparativen Vorteilen", die bis heute zum Werkzeug jedes Ökonomen gehört.

(Foto: Hulton Archive/Getty Images)

Vor 200 Jahren veröffentlichte der britische Ökonom sein Hauptwerk über den freien Handel. Darin beschreibt er die Vorteile des internationalen Warenaustauschs. Derzeit ist es so aktuell wie lange nicht.

Von Harald Freiberger

David Ricardo hätte den Zeitpunkt der Veröffentlichung seines berühmten Buches im Nachhinein kaum besser wählen können. Vor ziemlich genau 200 Jahren, am 19. April 1817, erschien "Über die Prinzipien der politischen Ökonomie und der Besteuerung". In einem Kapitel befasst sich der britische Ökonom mit der Frage, ob es für zwei Staaten von Vorteil ist, miteinander Handel zu treiben.

Ricardo ist der Erste, der die Frage anhand von Daten und Modellen zu beantworten versucht, und er beantwortet sie mit einem eindeutigen Ja. Der erste Satz lautet: "Eine Ausweitung des Handels mit anderen Ländern wird den Wert eines Landes nicht sofort erhöhen, aber sie wird auf Dauer sehr stark dazu beitragen, die Masse der Güter zu erhöhen und damit auch die Summe der Genüsse." Deshalb gilt Ricardo als Urvater der modernen, empirischen Volkswirtschaft und zugleich als Wegbereiter für die Anhänger des freien Welthandels und die Gegner von Protektionismus.

Wenn Portugiesen Wein ausführen und Briten Tuch, profitieren beide Länder davon

Genau 200 Jahre nach der Veröffentlichung des epochalen Werkes steckt der freie Welthandel in der größten Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Briten haben sich für den Austritt aus der EU entschieden und verhandeln demnächst die Bedingungen für die Abschottung gegenüber dem Festland. Und in den USA ist seit wenigen Monaten ein Präsident an der Macht, der "America first" zur Devise ausgerufen hat und den Rest der Welt mit Worten und Taten in Unruhe versetzt: Er bezichtigt China der Währungsmanipulation, lässt eine Mauer zu Mexiko bauen und droht Automobilherstellern wie BMW mit einem Strafzoll von 35 Prozent, wenn sie ihre Produkte nach Amerika einführen. Pünktlich zum 200. Geburtstag seines Hauptwerks ist Ricardo aktuell wie lange nicht.

Und so häufen sich in diesen Wochen die Veranstaltungen von Ricardos wissenschaftlichen Nachfahren. Das Münchner Ifo-Institut veranstaltete gerade eine Konferenz, auf der hochrangige Ökonomen aus allen Teilen der Welt über ihren Gründervater sprachen. Sie kommen zu dem Schluss, dass seine Antwort auf die zentrale ökonomische Frage auch nach 200 Jahren noch stimmt: Ja, der freie Welthandel hat Vorteile für alle Staaten.

"Es gibt nicht den Schatten eines Zweifels darüber, dass Protektionismus schädlich ist", sagt Gabriel Felbermayr, Experte für internationalen Handel beim Ifo-Institut. Die Abschottung gegenüber anderen Ländern, etwa durch hohe Zölle, habe noch nie funktioniert. Es gebe keine Beweise dafür in der modernen Wirtschaftsgeschichte. Umgekehrt aber gebe es "starke Belege dafür, dass offene Länder auf Dauer ihren Wohlstand mehren und in ihnen das Pro-Kopf-Einkommen steigt" - auch wenn der Beweis dafür im Einzelnen nicht immer leicht zu führen sei.

Ricardo untermauerte seine These mit dem berühmten Beispiel der portugiesischen Weinhersteller und der britischen Tuchmacher: Wer ein Produkt billiger herstellt, hat einen "komparativen Vorteil". Deshalb ist es gut, wenn Portugiesen Wein produzieren und Briten Kleider und diese in das jeweils andere Land ausführen. Der Handel ist zum Vorteil beider Länder, da Produzenten damit höhere Profite erzielen und Konsumenten günstiger einkaufen.

"Das Schöne ist, dass Ricardos These bis heute ihre Gültigkeit bewiesen hat", sagt Ökonom Felbermayr. Nachfolgende Wissenschafts-Generationen haben dies belegt. Der österreichische Ökonom Gottfried Haberler etwa wies in den 1930er-Jahren nach, dass der freie Welthandel ein erstrebenswerter Zustand ist, der sich gerade in einer Marktwirtschaft einstellt, weil sich Länder auf Produkte spezialisieren, bei denen sie einen komparativen Vorteil haben. "Es braucht also keinen König und keinen Weltplaner für den freien Handel", sagt Felbermayr. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten Ökonomen wie der Amerikaner Paul Samuelson, dass die Theorie des komparativen Vorteils nicht nur für zwei Produkte gilt, sondern sich auf unzählige Güter ausweiten lässt. Und vor knapp 20 Jahren entwickelten Forscher Modelle, die sich nicht nur auf zwei, sondern auf viele Staaten anwenden lassen. Mit ihnen arbeiten die Ökonomen heute noch, und sie basieren auf Ricardos Erkenntnissen.

Ricardos These wurde nach 1930 auch in der Realität bewiesen: Um ihren Unternehmen in der Weltwirtschaftskrise Vorteile zu verschaffen, zettelten die Amerikaner damals einen Wettlauf des Protektionismus an. Sie führten, ganz im Trump'schen Sinne, Importzölle von bis zu 40 Prozent ein. Die Handelspartner konterten und erhoben ihrerseits Strafzölle. Die Folge war, dass der weltweite Handel einbrach; am Ende litten alle Länder.

Das Buch gilt als sperrig. Kritiker mäkelten, der Autor habe es wohl selbst nicht ganz verstanden

Die Versuchung, Zölle auf eingeführte Waren zu erheben, ist gerade in schwierigen Zeiten groß. Denn zunächst verschafft sich ein Land dadurch Vorteile gegenüber anderen. "Das funktioniert aber nur vorübergehend und nur, wenn andere Länder sich das gefallen lassen", sagt Felbermayr. Da dies sehr unwahrscheinlich sei, gebe es am Ende nur Verlierer.

Aus dieser Erkenntnis heraus einigte sich die Staatengemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg auf das Handelsabkommen Gatt, dem 1995 die Welthandelsorganisation (WTO) folgte. Sie wacht darüber, dass ein Land andere im Handel nicht diskriminiert. "Über Jahrzehnte funktionierte das sehr gut, zum Nutzen aller Staaten", sagt Felbermayr. Doch schon seit einiger Zeit sei "ein Sittenverfall" im Welthandel zu beobachten. Die Trump-Administration etwa habe mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass sie WTO-Sprüche nicht automatisch anerkennen wolle.

Vielleicht sollte sich mancher zum 200. Jahrestag mit David Ricardos zeitlosen Einsichten beschäftigten - wobei das Original allerdings als sperrig gilt. Ricardo selbst sagte, dass sein Buch vielleicht nur 35 Leute verstehen würden. Manche lästerten später, dass es gar nicht zu verstehen sei, womöglich habe er sein Konzept ja selbst nicht ganz verstanden. Und ein Kritiker witzelte, beim Laien bleibe nach der Lektüre wahrscheinlich nur das Bild von einer Flasche portugiesischen Weins hängen, nicht aber die Theorie des freien Handels.

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