"Zehn Dinge, von denen wir wissen, dass sie stimmen." Zwei Jahre nach der Gründung, als Google noch ein kleines Unternehmen war, hat es so seine Firmenphilosophie getauft. Die zehn Wahrheiten sollten ein Manifest sein, an dem sich das Unternehmen messen lassen wollte. Punkt zwei auf der Liste: "Es ist das Beste, eine Sache sehr, sehr gut zu machen." Die Betonung lag auf "eine". Und diese eine Sache, auf die sich Google so richtig fokussieren wollte, war die Internetsuche.
In den vergangenen Jahren ist Punkt zwei zum Treppenwitz verkommen. Sich bloß auf eine einzige Sache konzentrieren? Das ist doch nichts für Google, die Weltmacht, die alle Bereiche des Lebens und der Technik revolutionieren soll - inklusive des ewigen Lebens. Larry Page und Sergej Brin, die beiden Gründer, sehen sich als Visionäre, ihr Unternehmen startete ein Nebenprojekt nach dem anderen. Erst hatten sie noch mit dem Internet zu tun, etwas der E-Mail-Dienst Gmail, die Weltkarte Google Maps oder die Videoplattform Youtube. Mit den Jahren wurden die Projekte abseitiger: eine Datenbrille, selbstfahrende Autos, schlaue Thermostate, Lieferdrohnen, Technik gegen das menschliche Altern, eine spezielle Kontaktlinse für Diabetiker und so weiter. "Google ist fokussiert. Auf alles", scherzte Aaron Levie, der Chef des Cloud-Computing-Anbieters Box.
15 Jahre nachdem Page und Brin ihrem Konzern das Manifest geschrieben haben, bauen sie ihn jetzt so komplett um, dass es wieder stimmt. Google soll sich wieder fokussieren - und muss dazu schrumpfen. Künftig ist Google nur noch ein Unternehmen in einer neuen Holding namens Alphabet, die Nebenprojekte sind getrennte Firmen unter dem Alphabet-Dach. Page und Brin leiten Alphabet, halten sich aber aus dem Tagesgeschäft der Holding-Firmen raus. Die Unternehmen fokussieren sich. Die beiden Gründer machen alles.
"In der Technikbranche muss man sich immer ein wenig unwohl fühlen, um relevant zu bleiben."
Kleinere Firmen können schneller Entscheidungen treffen und sind einfallsreicher, glaubt Page, große Konzerne seien zu schwerfällig und unübersichtlich. Und Änderungen wie der riesige Umbau täten Konzernen gut. "Wir glauben schon seit Langem, dass Unternehmen mit der Zeit dazu tendieren, sich zu wohl damit zu fühlen, immer das Gleiche zu machen", schrieb der 42-Jährige in der Mitteilung zu Alphabet. "In der Technikbranche, in der revolutionäre Ideen die nächsten großen Wachstumsgebiete antreiben, muss man sich immer ein wenig unwohl fühlen, damit man relevant bleibt." Hinter der Entscheidung dürfte aber auch die Wall Street stecken. Mächtige Investoren haben schon lange kritisiert, dass sie nicht mehr erkennen können, woher das Geld bei Google kommt und wohin es fließt. Die allermeisten Einnahmen erwirtschaftet noch immer das klassische Google-Geschäft, die Werbeeinnahmen. Die vielen Nebenprojekte dagegen schreiben teils hohe Verluste - wie hoch, weiß keiner. Wer in Google investieren will, wünscht sich mehr Transparenz.
Künftig weist Alphabet in den Quartalsberichten die Finanzzahlen von Google und den Nebenfirmen getrennt aus. "Für Sergej und mich ist das ein spannendes neues Kapitel im Leben von Google", schreibt Page. Vorbild ist die Holding-Firma Berkshire Hathaway der Investorenlegende Warren Buffett, Pages Idol. Buffett sammelt mit einer Handvoll Mitarbeitern die Gewinne seiner Unternehmen ein und investiert sie neu, die Firmenchefs haben legendär viel Freiheit und mit Buffetts anderen Beteiligungen wenig zu tun.
Page und Brin haben sich beim Studium an der Stanford University getroffen und 1996 ihre erste Internet-Suchmaschine zusammen entwickelt. Richtig los ging es dann 1998, als Andreas von Bechtolsheim, der deutsche Mitgründer des Computer- und Softwarekonzerns Sun Microsystems, den beiden jungen Männern ihren ersten Scheck über 100 000 Dollar gab - das war die Geburtsstunde von Google Inc. Googol ist das englische Wort für die Zahl 10 hoch 100, also einer Eins mit 100 Nullen. Die beiden stellten die ersten Mitarbeiter ein, kannten jeden beim Namen. Heute ist Google ein Konzern mit mehr als 57 000 Mitarbeitern, wer heute bei Google anfängt, weiß seine Nummer nicht mehr und bekommt die beiden Gründer wahrscheinlich nie zu sehen.
In Europa laufen 90 Prozent der Suchanfragen über Google - was die EU-Kommission zu einem Verfahren wegen Wettbewerbsverzerrung veranlasste, Milliardenstrafen drohen. Es sind Bücher erschienen über die geheime Macht von Google, weil das Unternehmen alle Daten und Sorgen der Nutzer kennt. Oder über die Frage, ob die Allgegenwärtigkeit der Suchmaschine dem Gehirn schadet, weil es leichter ist, schnell etwas nachzuschlagen, als es sich zu merken. Brin und Page sind Multimilliardäre. Und aus dem Firmennamen, mit dem vor 15 Jahren nur ein paar Mathe-Freaks etwas anfangen konnten, ist in den allermeisten Sprachen der Welt ein Verb geworden: etwas googeln. Google durchdringt viele Lebensbereiche.
Auch andere Internetunternehmen sind immer vielfältiger geworden, die Utopien der Gründer passen teils kaum unter den Namen der Firma. Facebook zum Beispiel will Drohnen für die Internetversorgung in den Himmel schicken, was übrigens Google ebenfalls plant. Und Amazon, gestartet als Online-Buchladen, ist sein eigener Verlag und mit Amazon Web Services einer der größten Anbieter für Speicherplatz über das Internet.
Wenn Alphabet funktioniert, könnte es ein Vorbild für andere Konzerne werden.
Wenn. Auch Konglomerat-Strukturen haben ihre Nachteile, auch sie können unübersichtlich sein, auch bei ihnen kann es dem einen Bereich schaden, wenn der andere Geld verschlingt. General Electric, das amerikanische Musterbeispiel für Konglomerate, hat deshalb kürzlich die Finanz-Sparte abgespalten, die seit der Finanzkrise das restliche Unternehmen belastete. Die Wall Street findet es meist besser, die verschiedenen Einzelfirmen komplett voneinander zu trennen. Damit sie eine einzige Sache richtig, richtig gut machen können.