Das deutsche Valley:Wenn die Mauer fällt

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Günther Wagner hat in der DDR erlebt, was Disruption bedeutet. Seine Geschichte zeigt: Wer Brüche im Leben hat, tut sich als Chef leichter, den digitalen Wandel zu meistern.

Von Ulrich Schäfer

Es klingt oft hohl und aufgeblasen, wenn die Menschen im Silicon Valley von Disruption sprechen. Sie verwenden das Wort seit ein paar Jahren für so ziemlich alles, was sie erfinden: für Software, Apps, Gadgets. Und sie tun so, als ob sie jedes Mal etwas völlig Neues, Revolutionäres schaffen. Aber stimmt das wirklich? Disruption heißt: Eine wirtschaftliche Entwicklung bricht abrupt ab, ein Faden reißt, ein altes, oft analoges Geschäftsmodell ist obsolet, weil jemand ein besseres, digitales Geschäftsmodell geschaffen hat.

Günther Wagner hat erlebt, was Disruption bedeutet. Nicht heute, sondern im Herbst 1989. Nicht im Silicon Valley, sondern in der DDR. Er war Berufssoldat bei der Nationalen Volksarmee, diente in Peenemünde und verfolgte, wie in Leipzig jeden Montag Zehntausende demonstrierten. Als er dann mitbekam, wie Vorbereitungen getroffen wurden, die Armee der DDR gegen das eigene Volk einzusetzen, ergriff Wagner, bis dahin ein überzeugter Patriot, die Flucht in den Westen. Die Moral war ihm wichtiger als der Fahneneid.

Wenn es jemals eine wirtschaftliche Entwicklung gegeben hat, für die das Wort "Disruption" angemessen war, dann war es diese: der Fall der Mauer, das plötzliche Ende des Sozialismus, das abrupte Ende der Planwirtschaft. Das Geschäftsmodell der DDR war obsolet, es wurde von einem Tag auf den anderen abgelöst durch Marktwirtschaft und Demokratie.

Dieser plötzliche Wandel hat Günther Wagner geprägt, und ihn ganz entscheidend zu dem werden lassen, was er heute ist: zu einem Berater für die digitale Transformation; zu einem, der Führungskräften dabei hilft, den Sprung aus der teils noch analogen Ära in das neue vernetzte Zeitalter zu schaffen. Er schreibt darüber auch regelmäßig in einem viel gelesenen Blog im Karriere-Netzwerk Linkedin.

Wenn Wagner bei einem Glas Apfelschorle in einem Münchner Kaffeehaus darüber spricht, wie die Wende ihn geprägt hat, dann ist der Herbst 1989 für ihn so präsent, als wäre er erst ein paar Monate her. Er berichtet von den Gewissensbissen, die ihn damals plagten, und davon, wie schwer er sich, ähnlich wie viele DDR-Bürger, nach der anfänglichen Euphorie über Freiheit und D-Mark getan habe, als zwei völlig unterschiedliche Wirtschaftssysteme miteinander vereint wurden. Diese Zeit ist für ihn so präsent, dass er auf seiner Website bis heute auch ein Foto von sich als NVA-Soldat zeigt: in Uniform, mit dunkler Pilotenbrille und kurzen Haaren.

Noch ein zweites Ereignis hat sein Leben durcheinandergewirbelt: der Tsunami im Dezember 2004. Wagners Tochter machte damals ein mehrmonatiges Praktikum auf Sri Lanka, er selber hatte sich für einige Zeit nach Myanmar zurückgezogen, um dort zu meditieren - er wollte sich von seinem bisherigen Job bei einem internationalen Finanzdienstleister erholen. Nach und nach hatte er sich in der Firma nach oben gearbeitet und gut verdient. Aber der Preis dafür? Ein harter Umgang, ein machtbewusster Chef. Wagner warf schließlich hin, als man ihn anwies, er möge doch auf dem Heimflug von London nach München, wo er damals wohnte, noch schnell eine Zwischenlandung in Frankfurt einlegen, einen Mitarbeiter zum Flughafen bestellen und rauswerfen, einen jungen Familienvater. Auch da packten ihn die Gewissensbisse, und er lernte etwas, das er heute auch als Berater zu vermitteln versucht: "Führung beginnt damit, sich selbst zu führen." Und das heißt, auch mal Nein zu sagen.

Für Chefs ist "Achtsamkeit die wichtigste Strömung der Gegenwart und Zukunft"

Der Tsunami veränderte Wagners Leben mit ähnlicher Wucht wie der Mauerfall. Er flog sofort von Myanmar nach Sri Lanka, um jenen auf der Insel zu helfen, die alles verloren hatten: Heim und Habe, oft auch viele Verwandte. Gemeinsam mit seiner Tochter und deren Mitstudenten gründete er einen Hilfsverein, sammelte Spenden und half ein Jahr lang beim Wiederaufbau. Sie schafften Lebensmittel, Kleidung und medizinische Hilfsgüter herbei. In Sri Lanka habe er gelernt, sagt Wagner, was Dankbarkeit bedeute.

Auch Achtsamkeit im Umgang mit anderen Menschen hat er dort gelernt. Ein Thema, das er heute auch Managern zu vermitteln versucht. Wagner wirbt bei ihnen dafür, nicht bloß auf Zahlen zu schauen, nicht bloß auf die üblichen Kennziffern, nicht bloß auf das klassische "Schneller, Höher, Weiter" der Digitalisierung zu setzen. Diese Mauer im Kopf müsse verschwinden, argumentiert er.

Stattdessen will Wagner die Führungskräfte dazu bringen, auf die Menschen einzugehen, die sie führen. Für Führungskräfte werde "Achtsamkeit die wichtigste Strömung der Gegenwart und Zukunft", meint er. Nur leider komme dieser Aspekt in der heutigen Management-Ausbildung kaum vor. Achtsamkeit bedeutet für Wagner, nicht bloß aufs Tempo zu drücken, sondern Mitarbeitern auch Phasen der Langsamkeit und Erholung zu gönnen. Und es bedeutet, nicht von oben zu führen, sondern vor allem zuzuhören und auf Argumente der Mitarbeiter einzugehen. Er rät Führungskräften zudem, auch mit sich selbst achtsam umzugehen. Also: keinen Raubbau am eigenen Körper zu betreiben, sondern regelmäßig Ausgleich zu suchen, bei Yoga, Meditation, Sport.

Wagners Geschichte zeigt: Wer als Führungskraft nicht bloß den gradlinigen Karriereweg verfolgt, sondern auch Brüche in seinem Leben überwunden hat, berufliche oder private, dem fällt es nicht immer, aber oft leichter, die digitale Transformation mit all ihren Veränderungen zu meistern. Und dazu gehört eben auch die Erkenntnis, dass nicht jede digitale Erfindung gleich die halbe Welt verändert, sondern die Digitalisierung eben ein sehr langer, manchmal zäher Prozess ist, bei dem sich mancher Hype auch wieder von selbst erledigt. Der Fall der Mauer vollzog sich da deutlich abrupter.

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