Als Dieter Kempf neulich auf der Münchner Cybersecurity-Konferenz sprach, war er in seinem Element. Der oberste Repräsentant der deutschen Industrie redete nicht über Steuersätze oder Lohnnebenkosten, nicht über Arbeitsrecht, Energiekosten oder andere wirtschaftspolitische Fragen, die seine Vorgänger umtrieben - sondern über Hacker. "Das sind keine 26-Jährigen, die Gauloises rauchen und Cola oder Red Bull trinken", erzählte Kempf. Sondern Teams, die in China oder Russland hocken und von dort aus auch in deutsche Unternehmen eindringen. Ausführlich schilderte er vor 200 Managern im Bayerischen Hof die Gefahren - und dazu zählt er auch die allzu große Sorglosigkeit deutscher Unternehmen.
Der neue Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), im Amt seit Anfang Januar, spricht gerne und kundig über die Digitalisierung. Und das hat mit seiner Vita zu tun. Denn Kempf, 64, hat zwei Jahrzehnte lang eine Firma geführt, die sich - wie schon der Name zeigt - vor allem mit Daten beschäftigt: die Datev. Gegründet 1966 in Nürnberg von einer Gruppe von Steuerexperten, zählt die Datev mit über 7000 Mitarbeitern heute zu den größten Softwarehäusern und IT-Dienstleistern der Republik. Kempf stand zudem vier Jahre lang an der Spitze des Bitkom, des deutschen Dachverbandes der Digitalbranche. Zwar ist er - das Alter steht dem im Wege - kein Digital Native, der mit Smartphone und Internet aufgewachsen ist; aber einer, der die Digitalisierung als ganz große Chance für Deutschland sieht. Und weiß, wovon er spricht, wenn es um die Chancen von Smart Data geht, der intelligenten Nutzung digitaler Datenberge.
Kempf ist damit der richtige BDI-Präsident zur richtigen Zeit. So wie er für die wachsende Bedeutung der Digitalisierung steht, standen seine 14 Vorgänger auch stets für eine bestimmte Ära der deutschen Wirtschaft: Der mittelständische Matratzen-Fabrikant Fritz Berg (BDI-Präsident von 1949 bis 1971) verkörperte Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, sein Nachfolger Hans-Günther Sohl (1972 bis 1976), ein ehemaliger Thyssen-Chef, stand für das Wiedererstarken der deutschen Industrie. Es folgten danach weitere Industrie-Manager wie Hanns Martin Schleyer, Michael Rogowski oder Hans-Peter Keitel und Familienunternehmer wie Rolf Rodenstock, Heinrich Weiss oder Ulrich Grillo. Alle kamen aus klassischen Branchen. Mit einer Ausnahme: Hans-Olaf Henkel, BDI-Chef von 1995 bis 2000, war zuvor Deutschland- und zeitweise Europa-Chef des Computerkonzerns IBM. Doch als vehementer Vertreter des digitalen Wandels fiel er nicht auf. Sondern als einer, der unerbittlich über Deutschland als "kranker Mann Europas" lamentierte und wirtschaftspolitische Reformen verlangte. Mal konzilianter, mal schärfer im Ton, sagten alle BDI-Präsidenten genau das, was man von ihnen erwartete - und unterschieden sich damit nur graduell von ihren Vorgängern. Man könnte auch sagen: Das Reform-Gerede wurde mit der Zeit langweilig.
Dass Kempf nun teils andere Akzente setzt, ist gut so. Denn Deutschland vollzieht gerade spät, aber nicht zu spät die digitale Wende. Lange hatten die Unternehmen sich mit dem, was im Silicon Valley ersonnen und vorgelebt wurde, schwergetan. Doch seit zwei, drei Jahren begreifen immer mehr Konzerne und Mittelständler, dass die Digitalisierung wirklich jede Branche verändern wird, auch ihre; und sie versuchen sich darauf einzustellen. Zugleich hat die Politik, Kanzlerin Angela Merkel vorneweg, die Digitalisierung als zentrale Aufgabe entdeckt.
"Die Digitalisierung ist ein starkes Argument für den europäischen Gedanken."
Deshalb bedarf es auch einer anderen Agenda in den Verbänden, und zwar nicht bloß beim Bitkom, der sich per Definition um das Digitale kümmert. Die Endlosschleife der immer gleichen Argumente, die die Interessenvertreter der Wirtschaft in den letzten Jahren vortrugen - Runter mit den Steuern! Runter mit den Lohnnebenkosten! Runter mit der Regulierung! - hat sich ein Stück weit überlebt. Denn Deutschlands künftiger Wohlstand hängt eben nicht so sehr von der Ausgestaltung der Erbschaftsteuer ab (auch wenn manche Lobbyisten bis zuletzt den Eindruck erweckten); und übrigens auch nicht davon, wie man möglichst viel Geld umverteilt (auch wenn man den SPD-Kanzlerkandidat so verstehen muss). Beides dient vor allem dazu, den Status quo zu verwalten. Viel wichtiger hingegen ist, die Voraussetzungen zu schaffen, damit Deutschland und seine Unternehmen bei der Digitalisierung nicht bloß irgendwie mithalten können, sondern sie an vorderster Front gestalten - und dadurch Jobs und Einkommen schaffen.
Was dazu nötig ist, macht der neue BDI-Präsident immer wieder deutlich: Die Datennetze müssen noch schneller und noch breiter werden, die Forschung muss forciert und erleichtert werden. Und auf EU-Ebene muss die Regierung alles tun, um den digitalen Binnenmarkt voranzubringen: "Das ist keine Kann-Option, sondern ein Muss. Die Digitalisierung ist ein starkes Argument für das Vorantreiben des europäischen Gedankens", sagt Kempf.
Aber auch der Kampf gegen Cyber-Angriffe müsse entschlossener geführt werden, sagte Kempf auf der Münchner Cybersecurity-Konferenz. Vorstände müssten das als eine zentrale Führungsaufgabe verstehen, und dies nicht einfach an die Jungs von der EDV delegieren. Neue Produkte müssten so konstruiert werden, dass sensible Informationen in streng abgeschirmten Bereichen lagern, Kempf nennt das security by design. Es bedürfe zudem, an Schulen und Universitäten, einer wirklich umfassenden digitalen Bildung, wozu auch das Wissen zählt, wie man im Netz seine persönlichen Daten schützt.
Und angefügt sei: Hilfreich wären, gerade im Wahljahr, digitale Nachhilfestunden für die Politik.