Das deutsche Valley:Disruptiv in Hessisch-Sibirien

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(Foto: N/A)

Es entscheidet sich in München, ob die Industrie im Internet der Dinge führend sein kann.

Von Ulrich Schäfer

Max Viessmann spricht manchmal von "Hessisch-Sibirien", wenn er erklären will, wo das Unternehmen seiner Familie zu Hause ist: in Allendorf in Nordhessen, fern der Metropolen. Ins Sauerland ist es nicht weit, aber nach Kassel, mit ICE- und Autobahnanschluss, fährt man fast 80 Minuten. Viessmann, der Heizungs- und Klimatechnikhersteller, liegt also ab vom Schuss. Aber man kann es auch anders sehen: "Wir liegen", sagt Max Viessmann, der 27-jährige Chief Digital Officer des Unternehmens, "im Zentrum von Deutschland."

Auch im übertragenen Sinne befindet sich das 99 Jahre alte Familienunternehmen mitten in Deutschland. Denn im Mittelstand, der so lange stolz auf seinen Erfolg war, verändert die Digitalisierung gerade vieles. Bei Viessmann mit seinen 11 600 Beschäftigten hat man erkannt, dass die Firma ihre Arbeitsabläufe und Produkte von Grund auf verändern muss, wenn sie in einer total vernetzten Welt weiter erfolgreich sein will - in einer Welt, die Angela Merkel vorige Woche auf dem IT-Gipfel der Bundesregierung als "disruptiv" bezeichnet hat.

Disruptiv: Das bedeutet, dass plötzlich neue, junge Wettbewerber auf den Markt drängen, dass sie sich mit ihren Angeboten zwischen etablierte Hersteller und ihre Kunden schieben und dass die alten Geschäftsmodelle durch neue bedroht werden. Heute geht es eben nicht mehr nur darum, eine Heizung in den Keller zu stellen, sondern immer mehr Kunden erwarten einen Service wie bei Amazon und eine Benutzerführung, die so intuitiv ist wie auf dem Smartphone; und natürlich sollen Kessel, Heizkörper und Klimaanlage miteinander vernetzt sein. Viessmann steht in vielerlei Hinsicht für die Herausforderungen, die die deutsche Wirtschaft zu bewältigen hat - aber auch für ihre Chancen. Denn die Deutschen mögen weniger vom Internet verstehen als die Entwickler im Silicon Valley, aber sie verstehen mehr davon, Dinge zu produzieren - und diese werden nun über Wlan, Bluetooth und Datenleitungen verbunden.

Das 1917 gegründete Familienunternehmen verfügt einerseits weltweit über einen exzellenten Ruf und einen riesigen Kundenstamm, weil in seinen Produkten ein hohes Maß an deutscher Ingenieurskunst steckt: in Heizkesseln und Wärmepumpen, Biogasanalgen und Blockheizkraftwerken. Andererseits ist Viessmann mit seiner Zentrale eben nicht im hippen Berlin zu Hause oder in München, wo Google, Salesforce und Co. sich niedergelassen haben und mit BMW, Siemens oder Infineon am Internet der Dinge arbeiten.

Der Mittelständler aus Nordhessen hat rund 20 weitere Standorte in der deutschen Provinz, wo die Datengeschwindigkeit sich eher auf dem Niveau von Rumänien bewegt. Die Firma hat ihre Niederlassungen (und damit auch die jeweiligen Ortschaften) deshalb auf eigene Kosten an das schnelle Breitbandnetz angeschlossen und dafür einen siebenstelligen Betrag ausgegeben. Andernfalls hätte man es mit der Digitalisierung auch gleich lassen können. Denn wie will man Produkte aus der Ferne warten, also über das Internet, wenn die Daten durchs Netz ruckeln?

Solchen Problemen sehen sich auch andere Mittelständler ausgesetzt, wenn sie nicht in den großen Metropolen mit ihren schnellen Netzen sitzen - und wenn sie zugleich so "disruptiv" sein wollen wie die neuen Wettbewerber. Im Fall von Viessmann sind das Nest, ein US-Anbieter von Thermostaten, der von Google aufgekauft wurde, oder Tado, ein Start-up aus München, das Geräte entwickelt hat, um Heizkessel und Heizkörper zu vernetzen und diese automatisch an- und auszuschalten, je nachdem, ob man daheim ist oder nicht.

Max Viessmann sieht die Gefahr und ist fest entschlossen, dem mit eigenen Innovationen zu begegnen. Der Sohn des langjährigen Firmenchefs hat dabei - gemeinsam mit seinem Vater Martin - noch eine andere Herausforderung zu meistern: den Generationswechsel. Firmenpatriarchen scheitern immer wieder dabei, die Führung rechtzeitig an den Nachwuchs zu übergeben; und wenn jetzt noch die Digitalisierung hinzukommt, wird es doppelt schwierig. Denn Familienunternehmen sind meist nicht disruptiv, sondern setzen auf Kontinuität, auf Sicherheit.

Martin Viessmann und sein Sohn Max haben erkannt, dass sie einen Mittelweg einschlagen müssen, um Tradition und Disruption miteinander zu versöhnen. Der Vater hat sich deshalb entschlossen, früher als geplant den Vorstandsvorsitz niederzulegen; der Sohn, der zuvor vor allem als Investor in Start-ups tätig war und die neue Welt besser versteht, ist zugleich früher als geplant in die Führung des Familienbetriebs eingetreten und nun als Chief Digital Officer für die digitale Transformation verantwortlich. Sein Vorgänger auf diesem Posten wiederum übernimmt von Martin Viessmann den Vorstandsvorsitz - als erster Chef, der nicht aus der Familie stammt.

So also kann es gehen. Und so wird es hoffentlich in immer mehr Familienunternehmen gehen. Denn wenn Deutschland in der zweiten Runde der Digitalisierung erfolgreich sein will, reicht es eben nicht aus, sich bloß auf Berlin mit seinen coolen Start-ups zu konzentrieren. Sondern das deutsche Valley wird aus ganz vielen Tälern bestehen müssen, großen und kleinen. Es wird überall dort entstehen müssen, wo die bisherigen Weltmarktführer aus der Industrie und dem gehobenen Mittelstand zu Hause sind: im Schwarzwald und im Münsterland, in Stuttgart und in Düsseldorf, in Regensburg und in Erlangen.

Wenn Unternehmen wie Viessmann auch eine Außenstelle in Berlin oder München errichten, ein Innovationslabor, um Neues zu entwickeln und die neuen Technologien besser zu verstehen - dann ist das keine Beleg dafür, das eben doch alles in den Metropolen stattfindet, sondern dafür, dass Firmen wie Viessmann es verstanden haben, wie man das deutsche Valley bis nach Hessisch-Sibirien verlängert.

An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Ulrich Schäfer und Alina Fichter im Wechsel.

© SZ vom 23.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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