Ola Källenius sitzt in einem legeren Polo-Shirt vor der Kamera, wie immer freundlich lächelnd, wie immer etwas steif. Die Haare sind ein bisschen zu lang, schönen Gruß an Corona. Im virtuellen Interview mit der Video-Bloggerin "Supercar Blondie" alias Alexandra Hirschi plaudert er gut gelaunt von einer neuen Autobatterie-Chemie, an der die Entwickler von Mercedes derzeit forschen. "Organisch und kompostierbar." Da macht seine Interviewpartnerin große Augen. Und der Chef des Autokonzerns Daimler legt noch eins drauf: "Wir müssen die ursprüngliche Erfindung neu erfinden." Beides klingt spannend - und schwierig. Und damit hat Källenius sehr akkurat die Lage des Stuttgarter Autobauers umschrieben. Die Erben der Automobilerfinder Gottlieb Daimler und Carl Benz stehen an einer Kreuzung, und keiner weiß so recht, wie es weitergehen soll. Ob diese Neuerfindung klappen wird, ist offen.
Am Freitag ist Ola Källenius exakt ein Jahr lang Vorstandsvorsitzender der Daimler AG. Ein Anlass zum Feiern ist das in Stuttgart-Untertürkheim nicht. Ein Umtrunk verbietet sich aus Hygienegründen sowieso, aber auch sonst wäre eine Party ziemlich unangemessen. Denn selbst ganz ohne diese Corona-Pandemie müsste man Källenius' erstes Jahr so zusammenfassen: Es brennt nahezu überall, fast nirgends läuft es gut. Die Stichworte der Krise lauten Transformation (E-Mobilität und Digitalisierung), Konjunkturabschwung, Handelskrieg, CO₂-Grenzwerte. Dazu kommt für Daimler das selbstgemachte, milliardenteure Problem "Dieselgate", und überhaupt hat der Konzern in den fetten Jahren viel zu viel Speck angesetzt.
Das Vermächtnis Zetsches
Das war Källenius' Ausgangssituation, als er im Mai 2019 die Kommandobrücke (oder besser: den Krisenstab) übernahm. Damals lag der Aktienkurs bei 52 Euro - und das war eigentlich schon sehr enttäuschend. Danach rauschte er (auch wegen Corona) bis auf 21 hinunter, und Daimler stand da wie ein Übernahmekandidat. Derzeit liegt der Kurs immerhin bei 30 Euro. Mit jedem Monat und jeder Gewinnwarnung unter Källenius trat deutlicher zu Tage: Sein mit Ovationen verabschiedeter Vorgänger Dieter Zetsche hat nicht wirklich ein gut bestelltes Haus hinterlassen. Auch das gehört zur Ein-Jahres-Bilanz von Källenius: Man wird den Eindruck nicht los, dass Zetsche sich in seinen letzten Amtsjahren eher um die kurzfristigen Zahlen gekümmert und dabei die langfristige Strategie vernachlässigt hat. "Källenius hatte wegen der Altlasten aus der Zetsche-Ära einen Stolperstart", fasst Auto-Analyst Frank Schwope von der NordLB zusammen. "Und dann kam Corona."
Das Virus ist bis heute in den Fabrikhallen und den Autohäusern das Thema. Daimler steht wie alle anderen Hersteller noch unter "Nachfrage-Schock". Der Einbruch hat die ohnehin schon schlechte Stimmung im Konzern noch schlechter gemacht - und die Aufgabe für Källenius noch schwieriger. Eigentlich wollte er im April sein großes Sparprogramm starten: Tausende Führungskräfte mit dem goldenen Handschlag verabschieden und danach ohne Übergewicht durchstarten. Aber welcher Mitarbeiter gibt schon in Zeiten von Corona, Kurzarbeit und Abschwung freiwillig seinen Anstellungsvertrag beim Daimler her? Es ist eine toxische Mischung, die Källenius kontrollieren muss. Der Absatz bricht ein, die Lieferketten drohen zusammenzubrechen und die dringend nötige Restrukturierung wird ausgebremst. Keine Frage, Daimler steckt in einer Krise. Und Källenius kann nichts dafür.
Beim "Felgenraten" mit "Supercar-Blondie"
Der Druck auf ihn steigt, und er gibt ihn an seine Manager weiter. Zuletzt machte eine brisante interne Schulungsunterlage die Runde: Sie erläuterte den Führungskräften, wie sie ihre Mitarbeiter mit sanftem bis massivem Druck trotz allem zum Gehen bewegen können. Källenius fordert die Manager in dem Papier auf, dass die Planvorgaben zu erfüllen sind. Die Unterlage wurde an die Presse durchgestochen und löste reichlich Unruhe aus. Der Betriebsrat ging auf die Barrikaden. Mit Erfolg. Inzwischen sind die harschen Anweisungen zurückgenommen. Der Betriebsrat sagt zu dem Thema nichts mehr, um den mühsam wiederhergestellten Betriebsfrieden nicht zu gefährden.
Am überzeugendsten ist Källenius in seinem 13-minütigen virtuellen "Hangout" mit "Supercar-Blondie" beim lustigen Spielchen "Felgenraten". Källenius werden kleine Fotoausschnitte diverser Mercedesfelgen gezeigt, der Schwede nennt mit traumwandlerischer Sicherheit das dazu passende Automodell. Alexandra Hirschi ist beeindruckt und stellt fest: "Sie dürfen ihren Job behalten."
Ja, bei solchen Dingen ist der jugendlich wirkende 50-Jährige, der sich selbst als "Car-Guy" definiert, unschlagbar. Aber ob das Erkennen aller Felgen ausreichen wird, um den Konzern mit seinen 300 000 Mitarbeitern durch die Umbau-Diesel-Corona-Krise zu manövrieren? "Wichtig ist, dass Källenius Restrukturierungen umsetzt", sagt Analyst Schwope, "um sich in der Post-Corona-Ära zu profilieren und um sich von seinem Vorgänger abzusetzen." Für ein Urteil über Källenius' bisherige Arbeit sei es noch zu früh, sagt Schwope, auch wegen Corona. Allerdings sollte der Schwede das Unternehmen 2020 "auf alle Fälle in den schwarzen Zahlen halten." Wichtig für die Zukunft seien "deutliche Fortschritte bei der Elektromobilität". Zudem müsse der Konzern "weit stärker" als bisher mit anderen Herstellern wie BMW, Renault oder Volvo kooperieren, "um die Kosten zu senken und den Konzern zukunftsfähig zu machen." Das vergangene Jahr war für Källenius sicherlich das schwierigste seiner 27 Jahre in Daimlers Diensten. Das nächste wird mindestens genauso schwer.