Der Diesel-Skandal in der deutschen Autobranche weitet sich mit den neuen Vorwürfen gegen Daimler drastisch aus. Der selbstbewusste Konzern mit dem Stern muss wegen unzulässiger Abgastechnik europaweit 774 000 Fahrzeuge zurückrufen, davon 238 000 in Deutschland. In der Politik wächst der Ärger über die Branche. Die Manipulationen beschädigten die Marke "Made in Germany", sagt ein Regierungsmitglied. "Ich kann die Automobilindustrie nur eindringlich auffordern, mit diesen Praktiken radikal zu brechen", forderte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Die wichtigsten Fragen zu den Folgen des Massenrückrufs für Autofahrer und den Konzern:
Warum kommen erst jetzt - drei Jahre nach Beginn der Diesel-Affäre bei VW - auch Vorwürfe gegen Daimler auf?
Offenbar kamen bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart zuletzt neue Details ans Licht. Strafverfolger, Bundesverkehrsministerium und Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hätten enge Kontakte, heißt es in Berlin. KBA-Tests erhärteten zuletzt offenbar den Verdacht und führten nun zum Massenrückruf.
Greift der neue Bundesverkehrsminister härter durch als sein Vorgänger?
Die Vorwürfe gegen Daimler gelten als Zäsur in der politischen Aufarbeitung der Diesel-Affäre. Wohl selten wurde ein Konzernchef öffentlich so vorgeführt wie Daimler-Chef Dieter Zetsche in den vergangenen zwei Wochen. Der neue Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) weiß, dass sein politisches Schicksal vom Umgang mit der Diesel-Affäre abhängt. Der Autobranche macht Scheuers Vorgehen deutlich, dass er bereit ist, sich mit ihr anzulegen.
Abgasskandal:Scheuer knöpft sich Daimler vor
Wegen illegaler Abschalteinrichtungen ordnet der Verkehrsminister allein in Deutschland den Rückruf von 238 000 Mercedes-Dieseln an. Insgesamt sollen in Europa über 770 000 Fahrzeuge betroffen sein. Gegen Audi-Chef Stadler wird derweil ermittelt.
Welche Autos sind betroffen, und was bedeutet das für ihre Besitzer?
Neben dem schon zurückgerufenen Transporter Vito müssen laut Ministerium Mercedes-Modelle der C-Klasse (220 d) und des Geländewagens GLC (220d) in die Werkstätten. Genaueres nennt der Konzern noch nicht. Autobesitzer müssen nicht selbst tätig werden. Daimler will betroffene Kunden "schriftlich benachrichtigen" und bitten, einen Werkstatttermin zu vereinbaren. Die Umstellung wird laut Daimler etwa eine Stunde dauern. Das Update soll dafür sorgen, dass die Dieseltriebwerke weniger Stickoxide ausstoßen.
Könnte sich der Fall Daimler ausweiten?
In Kreisen der Bundesregierung ist man sich keinesfalls sicher, dass es bei der Zahl von 774 000 betroffenen Fahrzeugen bleibt. Man könne nicht ausschließen, dass weitere Modelle folgen. Daimler beantworte die Frage nach möglichen weiteren Rückrufen offen: Darüber entschieden das Ministerium beziehungsweise das Kraftfahrt-Bundesamt.
Worum geht es bei den Vorwürfen genau?
Daimler soll illegale Abschalteinrichtungen eingebaut haben, die die Abgasreinigung im Normalbetrieb auf der Straße reduzieren und für einen erhöhten Ausstoß schädlicher Stickoxide sorgen. Wie zuvor bei anderen Herstellern haben die Kontrolleure auch in Autos von Daimler spezielle Programmierungen entdeckt, die sie als unzulässig einstufen. Betroffen sind Daimler-Modelle, die seit Jahren in diversen Praxistests durch schlechte Abgaswerte aufgefallen sind. Bei ihrer Abgasreinigung kann man von einem sogenannten Thermofenster sprechen: Sie funktioniert nur oberhalb von zehn Grad Celsius, und auch dann nur, wenn es im Abgas-Strang so warm wie in einem Backofen ist. Wenn die Temperaturen sinken, müsste mit zusätzlichem Kraftstoff nachgeheizt werden. Damit steigen Verbrauch und CO₂-Ausstoß. Auch deshalb haben sich die meisten Dieselhersteller um die Wahrheit herumgeschummelt.
Was bedeutet der Daimler-Widerspruch?
Daimler hat Widerspruch gegen die Rückrufe angekündigt und will offene Fragen vor Gericht prüfen lassen. Der Konzern ist nicht der erste Hersteller, der so auf einen Zwangsrückruf des KBA reagiert. "Alle bisherigen Widersprüche wurden von den Herstellern zurückgenommen", teilt das Bundesverkehrsministerium mit. Zu eindeutig sind die Messergebnisse, wenn vermeintlich saubere Dieselmodelle mit neuer Abgasnorm Euro 6 abrupt ihre Abgasreinigung einstellen.
Welche Folgen haben die Vorwürfe für den Konzern?
Deutsche Behörden könnten Ordnungsgelder von 5000 Euro je Auto verhängen. Das würde eine Milliardenzahlung bedeuten. Laut Daimler-Chef Zetsche ist diese Forderung vom Tisch. Das Ministerium wies das zurück, über das Thema sei am Montag gar nicht gesprochen worden. Doch auch die US-Justiz prüft, ob die Stuttgarter wie VW dortige Behörden getäuscht haben. Daimler bestreitet auch das vehement. Nachdem deutsche Behörden Daimler nun illegale Abschalteinrichtungen vorwerfen, wird es immer schwerer für den Konzern, in den USA das Gegenteil zu beteuern. Sollte Daimler ähnlich wie VW den Schadstoffausstoß illegal beeinflusst haben, drohen Strafen. Daimler hatte bereits im Februar seine Rückstellungen für rechtliche Risiken aufgestockt - um weitere 1,2 Milliarden Euro auf 17,2 Milliarden Euro.
Bleibt Konzernchef Zetsche im Amt?
Vorstandsvorsitzender Dieter Zetsche hatte sich früh festgelegt. "Bei uns wird nicht betrogen, bei uns wurden keine Abgaswerte manipuliert", sagte er, nachdem der Skandal um den Abgasbetrug in Dieselautos von Volkswagen im Spätsommer 2015 hochkam. Der Massenrückruf stellt Zetsche nun vor ein Glaubwürdigkeitsproblem. Da der Konzern alle Vorwürfe zurückweist, kann Zetsche bei seiner Darstellung bleiben. Der Druck könnte dennoch wachsen. Auf die Frage, ob Zetsche weiterhin Daimler-Chef bleibe, antwortete der Konzern am Dienstag nicht.