Kronzeuge:Millionenklagen gegen den Raketenmann

Auftakt Cum-Ex-Prozess in Bonn

Im März 2020 hat das Landgericht Bonn im Cum-Ex-Prozess zwei Börsenhändler wegen schwerer Steuerhinterziehung schuldig gesprochen.

(Foto: Lukas Schulze)

In Deutschlands größtem Steuerskandal sieht sich ein Kronzeuge der Ermittler heftigen Attacken ausgesetzt.

Von Klaus Ott, Jan Willmroth und Nils Wischmeyer, München/Frankfurt

Das Leben des Steueranwalts S., eines beinahe asketisch wirkenden Fast-Fünfzigers, ist ein einziger Superlativ. Rocket Man wurde er früher genannt, Raketenmann, weil bei ihm vieles am schnellsten lief. Sein Aufstieg zum begehrten Berater in der internationalen Finanzbranche, der die heißesten Tipps lieferte, wie Banken den Fiskus austricksen konnten. Die erste Million, rasante Autos, S. fuhr immer auf der Überholspur, bis zum großen Crash mit Cum-Ex-Deals. Bis die Kölner Staatsanwaltschaft kam und ihm wegen mutmaßlicher Steuerdelikte viele Jahre Gefängnis in Aussicht stellte. Der Raketenmann war auch hier der Schnellste und begann als erste Schlüsselfigur, umfassend auszupacken.

Heute ist S. einer der wichtigsten Zeugen der Ermittler in Deutschlands größtem Steuerskandal, der es unter dem Titel Cum-Ex zu trauriger Berühmtheit gebracht hat. Der Anwalt soll der Kölner Staatsanwaltschaft helfen, Bankmanager und Börsenhändler hinter Gitter zu bringen, zweimal schon hat er vor Gericht als Zeuge ausgesagt und andere Akteure schwer belastet.

Nun kommt ein neuer Superlativ hinzu. S. hat die teuersten Klagen in diesem Skandal am Hals. Auf mehr als 500 Millionen Euro summieren sich die Ansprüche, die zwei Geldinstitute gegen ihn und andere geltend machen. Die neueste Klage stammt von der traditionsreichen Hamburger Privatbank M. M. Warburg; sie datiert vom 30. Dezember 2020, liegt beim Landgericht Hamburg und richtet sich auch gegen den ehemaligen Kanzleipartner von S., gegen die Deutsche Bank und zwei weitere Unternehmen.

Warburg, das ist jene Bank, deren Aktiendeals dazu führten, dass die Hamburger Bürgerschaft einen Untersuchungsausschuss eingesetzt hat. Der soll klären, ob der frühere Erste Bürgermeister Hamburgs und heutige Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) in den Cum-Ex-Skandal verwickelt ist. Der damalige Bankchef Christian Olearius hatte mit Scholz Ende 2016 über die Cum-Ex-Nachforschungen des Hamburger Finanzamts gesprochen. Die Behörden in der Hansestadt wiederum waren jahrelang ziemlich nachsichtig. Olearius und Scholz bestreiten, dass man Einfluss genommen habe auf den Fiskus.

Dass das alles so weit gekommen ist, das liegt auch am Raketenmann. Noch so ein Superlativ: Die Auswirkungen dessen, was S. mit seinen Aussagen ausgelöst hat, führen bis in höchste politische Kreise.

Steuerfahnder schätzen den Schaden durch Cum-Ex-Deals auf mehr als zehn Milliarden Euro

Der Raketenmann hat mit seinen Angaben bei den Ermittlern und bei Gericht die Warburg-Gruppe und deren früheren Chef Olearius in Erklärungsnot gebracht. S. war im vorvergangenen Jahrzehnt häufiger zu Besuch bei Warburg; es ging um Aktiendeals. Die Verantwortlichen der Hamburger Privatbank hätten genau gewusst, auf welche Geschäfte sie sich einließen, sagte S. aus. Er gehe davon aus, dass Olearius verstanden habe, woher der Profit komme: aus der Steuerkasse. Cum-Ex-Deals lohnten sich nur in Form von Aktienkreisgeschäften mit enormem Geldeinsatz, bei denen der Fiskus eine einmal gezahlte Steuer auf Dividendenerlöse mehrmals erstattete oder verrechnete. Steuerfahnder schätzen den Schaden auf insgesamt mehr als zehn Milliarden Euro. Staatsanwaltschaften in Köln, Frankfurt, München und Stuttgart ermitteln gegen mehr als 1000 Beschuldigte.

Die Justiz ist also ohnehin schon schwer mit Cum-Ex beschäftigt. Die neue Klage von Warburg gegen S. und andere ist das jüngste Beispiel für die zivilrechtlichen Schlachten, die jetzt folgen. Der Schriftsatz ist 144 Seiten dick, hinzu kommen 76 Anlagen. Das ist nicht einfach ein weiteres Verfahren, jetzt geht es um alles: Die hanseatische Privatbank will ihren Ruf retten und ihren Ex-Chef und Gesellschafter Olearius vor dem Gefängnis bewahren. Er wäre der erste Bankchef, der wegen Cum-Ex-Geschäften hinter Gitter müsste. Das hätte Signalwirkung für alle jene, die noch mit Anklagen rechnen müssen. Andere wichtige Cum-Ex-Dealer sind dem Beispiel des Raketenmanns gefolgt und haben ebenfalls ausgepackt, bis die Ermittler ein Bild zusammenfügen konnten von einer Geldvermehrungsmaschine auf Kosten der Allgemeinheit.

Wie es in den laufenden Verfahren weitergeht, hängt immer noch stark von S. ab. Warburg sieht sich von dem früheren Geschäftspartner getäuscht. Der Anwalt und sein damaliger Kanzleipartner Hanno Berger hätten die Bank "absichtlich" in die Irre geführt und verschwiegen, was tatsächlich hinter den Aktiendeals steckte. Berger und S. hätten der Bank die Börsendeals als harmloses "Dividendenstripping" verkauft, eine legale Form der Steuervermeidung. Folglich müssten die beiden zusammen mit den übrigen Beklagten der Bank jeglichen Schaden ersetzen. Das seien, weil Warburg beim Fiskus bereits mit einem dreistelligen Millionenbetrag haften musste, knapp 200 Millionen Euro, inklusive Zinsen. Und falls noch mehr Geld beim Fiskus fällig werden sollte, müssten das auch die Beklagten übernehmen.

Im Herbst vergangenen Jahres hat S. schon einmal eine Klage zugestellt bekommen, vom Institut Caceis, einer Tochter der französischen Großbank Crédit Agricole. Die Klage richtet sich gegen insgesamt 23 Personen und Firmen, der Streitwert liegt bei 330 Millionen Euro. Die Vorwürfe sind im Prinzip die gleichen. Auch die Crédit-Agricole-Tochter Caceis, die dem Fiskus bereits dessen Schaden ersetzen musste, sieht sich von S., Berger und anderen Akteuren getäuscht. Caceis hat genauso wie Warburg dem Fiskus nur unter Vorbehalt das viele Geld überwiesen - beide Banken bestreiten, dass sie in illegale Cum-Ex-Geschäfte verwickelt waren. Das bestreitet im Übrigen auch Hanno Berger, der sich vor mehr als acht Jahren in die Schweiz abgesetzt hat und gegen den zwei Anklagen und mehrere Haftbefehle in Deutschland vorliegen.

Warburg wirft den Beratern eine "vorsätzliche sittenwidrige Schädigung" vor

In seinem ersten Cum-Ex-Strafurteil sprach das Landgericht Bonn im März 2020 zwei Börsenhändler der schweren Steuerhinterziehung schuldig. Das Urteil ist in Teilen rechtskräftig. Die beiden Angeklagten kamen nur mit Bewährungsstrafen davon, weil sie geständig waren und den Ermittlern bei der Aufklärung kräftig geholfen hatten. Auch in diesem Prozess hat S. umfassend ausgesagt, auch zulasten von Warburg, deren Geschäfte bereits Thema waren. Die Kammer notierte in ihrem Urteil, die Angaben von S. seien anschaulich, detailreich, plausibel und widerspruchsfrei gewesen.

Inzwischen hat S. in einem weiteren Prozess am Landgericht Bonn gegen einen früheren Generalbevollmächtigten von Warburg ausgesagt, einen ehedem engen Vertrauten von Olearius. Der Kronzeuge hat auch ihn schwer belastet. Nun versucht Warburg, mit der 200-Millionen-Klage gegen S. und andere zu kontern. Was ist das nun: Ein juristischer Gegenschlag der hanseatischen Privatbank, die sich zu Unrecht an den Pranger gestellt sieht? Oder der Versuch, einen Kronzeugen einzuschüchtern? Warburg behauptet, man sei von Berger und S. in deren "hemmungslosem Gewinnstreben" jahrelang getäuscht worden. Das sei "vorsätzliche sittenwidrige Schädigung". Die beiden Anwälte hätten persönlich etwa 100 Millionen Euro an den Deals verdient.

Berger bestreitet aus der Schweiz heraus alle Vorwürfe, die gegen ihn vorgebracht werden. Sein Verteidiger zeigte sich auf Anfrage verwundert und verwies auf Aussagen von Olearius selbst in der FAZ im vergangenen Dezember, wonach Berger die Bank gar nicht rechtlich beraten habe.

Bergers Ex-Kanzleipartner S. wiederum steht zu dem, was er bei den Ermittlern und vor Gericht ausgesagt hat. Seine Erwiderung auf die Attacke von Warburg dürfte nicht lange auf sich warten lassen. Auf die erste Klage hin, auf die 330-Millionen-Forderung von Caceis, hat S. mit einer Strafanzeige wegen des Verdachts des Prozessbetrugs reagiert. Er wirft Caceis vor, die Justiz täuschen zu wollen. Was in der 330-Millionen-Klage vorgetragen werde, sei "offensichtlich und wissentlich falsch". Caceis weist das zurück. Härter und heftiger geht es kaum mehr. Das Leben des Steueranwalts S. bleibt eines im Superlativ. Und das auf kaum absehbare Zeit.

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