Cum-Ex-Prozess:Steuerschuld

Lesezeit: 4 min

Millionen Euro Schaden für den Staat, zwei Angeklagte, ein wegweisender Prozess: Die Cum-Ex-Geschäfte waren dubios. Ein Gericht muss nun entscheiden, ob sie auch strafbar waren.

Von Jan Willmroth und Nils Wischmeyer, Bonn

Als die Formalitäten geklärt sind an diesem Morgen, hat Anne Brorhilker ihren ersten großen Auftritt. Mit sonorer Stimme und fehlerlos verliest sie, woran sie Jahre gearbeitet hat, gut 50 Seiten aus der ersten zum Prozess zugelassenen Anklageschrift im Cum-Ex-Steuerskandal. Es ist der Auftakt zu einem Prozess, der in die Geschichte eingehen wird. Auf der Anklagebank sitzen zwei frühere Investmentbanker, die den deutschen Staat um Hunderte Millionen Euro gebracht haben sollen. Es ist so viel Text, dass der Vorsitzende Richter Roland Zickler der Oberstaatsanwältin erlaubt, sitzen zu bleiben.

Brorhilker, eine schlanke Frau mit blonden, schulterlangen Haaren, treibt den Kampf gegen einige der dreistesten Steuertrickser voran wie niemand sonst. Am Mittwoch führt sie ihn zum ersten Mal öffentlich, Saal 0.

11 im Landgericht Bonn. Auf der anderen Seite des Raumes sitzen die Angeklagten, neben ihnen jeweils drei Verteidiger. Simultandolmetscher übersetzen jedes Wort ins Englische. Dahinter haben noch einmal neun Anwälte Platz genommen, als Vertreter der fünf am Verfahren beteiligten Finanzdienstleister. Vor mehr als hundert Journalisten und Beobachtern lauschen Nick D. und Martin S. den längst bekannten Vorwürfen.

Die Angeklagten hören, wie sie sich "spätestens ab 2006" mit weiteren Beschuldigten zu einer Bande zusammengeschlossen haben sollen, um "Cum-Ex-Geschäfte mit deutschen Aktienwerten zu tätigen", erst als Händler bei der Hypo-Vereinsbank, später bei der auf steuergetriebene Aktiengeschäfte spezialisierten Fondsfirma Ballance. "Es handelt sich dabei lediglich scheinbar um einen gewinnorientierten Handel mit Aktien", trägt Brorhilker vor, "da der Profit dieser Geschäfte nicht über Marktchancen generiert wird, sondern auf der betrügerischen Erlangung von Steuergeldern basiert." Im Klartext: Die Beteiligten wollten nicht von Kursgewinnen oder Dividenden profitieren, sondern sich am Geld der Steuerzahler bereichern. Weil das deutsche Strafrecht den hier treffenden Begriff des "Steuerbetrugs" nicht kennt, lautet der Vorwurf auf Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen.

Martin S., 41, ein stattlicher Mann mit beigefarbenem Pullover und weißem Hemd unter dem Sakko, und Nick D., 38, die Haare zur Seite gegelt, die blau-rot-weiß gestreifte Krawatte akkurat gebunden, haben nach langen Ermittlungen beschlossen auszusagen. Beide sind britische Staatsbürger, S. wohnt mit seiner Familie in Dublin, D. mit Frau und Kindern in London. In 33 Fällen sind sie wegen schwerer Steuerhinterziehung angeklagt, in einem Fall soll es beim Versuch geblieben sein. Laut Brorhilker haben die beiden so einen Steuerschaden von 447,5 Millionen Euro verursacht. Wobei das Gericht später ankündigt, anders zu rechnen. Fortan soll es um knapp 400 Millionen Euro gehen.

Die Anklageschrift umfasst mehr als 650 Seiten

Aber auch das ist eine gewaltige Summe. Kein Wunder also, dass die Anklage mehr als 650 Seiten umfasst. Das ganze Verfahren füllt 28 Aktenordner, der 29. ist schon angelegt. Um alle auf den neuesten Stand zu bringen, verteilt das Gericht eine CD-ROM mit den bis dato noch neuen Akten. Ausdrucken will das keiner mehr.

Die Anklageschrift zeigt, wie komplex die Aufarbeitung dieser teils 13 Jahre zurückliegenden Fälle sein wird: Allein der erste Fall, in dem die Privatbank M.M. Warburg an Ballance herangetreten sein soll, ist in der Beschreibung der Beteiligten und ihrer Rollen so vielschichtig, dass Außenstehende kaum durchblicken. Der Schaden von etwa 37,4 Millionen Euro zulasten der Steuerzahler, der in diesem ersten Fall entstanden sein soll, ist unmissverständlich. Martin S., erklärt dessen Anwältin Hellen Schilling kurz vor Ende des ersten Verhandlungstages, habe eine schwierige und mutige Entscheidung getroffen: Er wolle aussagen. So, wie er es zuvor in mehr als 30 Vernehmungen bei der Staatsanwaltschaft getan hat. "Die in der Anklage wiedergegebenen Tatsachen basieren ganz wesentlich auch auf seinen Angaben", sagt sie. Brorhilker bestätigt, dass seine Aussagen die Ermittlungen beschleunigt hätten.

Martin S. hat den Fahndern geholfen, das Geflecht dieser Deals überhaupt erst zu verstehen. Cum-Ex-Geschäfte waren über Jahre hinweg möglich, weil das Steuerrecht entsprechende Lücken aufwies. Händler wie S. und D. hatten Wege gefunden, Aktien so zu handeln, dass der Staat am Ende mehr Kapitalertragsteuern erstattete, als er zuvor eingenommen hatte. Die Staatsanwaltschaft sieht es als erwiesen an, dass sie sich in zahlreichen Fällen mit Banken und anderen Beschuldigten abgesprochen haben und die Taten gemeinschaftlich mit mehreren Anwälten geplant haben; mit mündlichen Absprachen und mit Excel-Tabellen, in denen sie die am Handel Beteiligten wie bei einem Puzzle miteinander verbanden. Bis einschließlich 2011 soll das gelaufen sein. Erst zu Beginn des Jahres 2012 hatte der Gesetzgeber die Schwachstellen im Steuerrecht beseitigt.

Beweisstücke und Aussagen der Angeklagten sollen belegen, dass die Taten stets nach dem gleichen Muster abliefen: Rund um den Stichtag einer Dividendenzahlung handelten Banken, Händler und Investoren die Aktien mit (Cum) und ohne (Ex) Recht auf Dividende schnell hin und her und ließen sich am Ende mehr Kapitalertragssteuern auszahlen, als sie zuvor gezahlt hatten. Den entsprechenden Gewinn sollen sie dann nach einem vorher festgelegtem Plan unter sich aufgeteilt haben. Zehn Milliarden Euro Schaden für den Fiskus sollen so insgesamt entstanden sein.

Sowohl der Prozessverlauf als auch das Urteil am Landgericht Bonn werden wegweisend für alle weiteren Strafprozesse in Sachen Cum-Ex sein: Erstmals wird sich klären, inwiefern diese Deals strafbar waren. Neben S. hat auch D. den Griff in die Staatskasse beschrieben, zumal die Geschäfte und ihr Ablauf objektiv nicht mehr zu bestreiten sind. Beide haben in etlichen Vernehmungen ausgesagt und dabei andere Akteure belastet, ohne die eigene Rolle zu beschönigen. In der Hoffnung auf ein relativ mildes Urteil haben sie entschieden, sich offen auf das Verfahren ( Az.: 62 KLs 1/19) einzulassen. Es ist absehbar, dass dieses Verfahren am Ende beim Bundesgerichtshof landen wird.

Das Urteil in erster Instanz dürfte indes nicht nur für die Angeklagten interessant sein, sondern auch für die Banken: Als Verfahrensbeteiligte sind fünf Finanzdienstleister geladen. Die Kammer wird prüfen, ob und in welcher Höhe die Institute den jeweils entstandenen Schaden ersetzen müssen. Möglich macht diese "Einziehung von Vermögen" ein relativ neuer Paragraf im Gesetzbuch. Der frühere Arbeitgeber von D. und S. bleibt dabei außen vor. Die Hypo-Vereinsbank hat den ihr angelasteten Schaden längst ersetzt, ein Bußgeld gezahlt und damit vor Jahren reinen Tisch gemacht. Für sie scheint der Skandal abgeschlossen zu sein. Für Nick D. und Martin S. geht es jetzt erst richtig los.

© SZ vom 05.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: