Martin S. wird nicht alles erzählen an diesem Mittwoch im Landgericht Bonn. Das erlaubt schon die Zeit nicht. Doch auf die Länge kommt es auch weniger an als auf den Inhalt. Martin S. ist immerhin der erste Angeklagte, der je über Cum-Ex in einem Strafprozess in Deutschland sprechen wird, einer, dem die Staatsanwaltschaft schwere Steuerhinterziehung vorwirft - und der einer der wichtigsten Zeugen ist. Was der Ex-Banker im ersten Cum-Ex-Strafprozess sagen wird, wird Ermittler, Finanzbeamte, Richter, Banker und Anwälte in ganz Deutschland lauschen lassen.
Der Prozess in Bonn gilt vielen als wegweisend dafür, wie weitere Cum-Ex-Verfahren ablaufen werden und was Banken und Beteiligte womöglich zu befürchten haben. Über Jahre hinweg hatten Investoren, Banken und andere Finanzakteure sich beim Fiskus eine einmalig gezahlte Steuer mehrmals erstatten lassen.
Möglich war das, weil die Akteure große Aktienpakete mit (cum) und ohne (ex) Dividende rund um den Dividendenstichtag so schnell handelten, dass schwer nachzuvollziehen war, wem die Aktie wann gehörte. Statt nur einmal bezahlte der Staat eine Steuer zweifach oder noch häufiger zurück. Dadurch entstand Steuerfahndern zufolge ein Schaden von schätzungsweise mehr als zehn Milliarden Euro, allein in NRW gibt es 59 Verfahrenskomplexe mit insgesamt 400 Beschuldigten.
Dem nun angeklagten Martin S. wirft die Staatsanwaltschaft schwere Steuerhinterziehung in 33 Fällen vor, in einem weiteren Fall soll es beim Versuch geblieben sein. Er und der ebenfalls angeklagte Nick D. sollen zusammen mit vielen Komplizen zwischen 2006 und 2011 durch Cum-Ex-Geschäfte einen Schaden von 447,5 Millionen Euro verursacht haben.
Dass er vor Gericht aussagen wird, hatte seine Anwältin Hellen Schilling am ersten Prozesstag zugesichert. Und auch in der Vergangenheit war Martin S. durchaus kooperativ: Seit 2017 flog er knapp 30 Mal aus Irland ein, erklärte, zeichnete, sagte aus. Hunderte Seiten an Akten füllten die Ermittler allein mit seinen Vernehmungen. Darin hat er von seinem Studium als Ingenieur berichtet, darüber, wie ihn das Geld in die Finanzbranche lockte, wie auf Cum-Ex-Geschäfte aufmerksam wurde, in einer Bank selbst damit anfing und sich schließlich mit der Ballance-Gruppe selbständig machte und offenbar abkassierte.
Öfter als er standen in seinen Aussagen aber andere im Mittelpunkt. Investoren, Banken, Beteiligte, wer an welchem Handelstisch mit Cum-Ex zu tun hatte, wohin Geld floss. Entsprechend gespannt dürften die Banken sein, die in seiner Zusammenfassung vor Gericht vielleicht eine Rolle spielen könnten. Ihnen drohen Abschöpfungen, etwa von zu oft erstatteten Steuern oder von durch mit Cum-Ex-Deals erzielten Gewinnen.
Der Angeklagte half der Staatsanwaltschaft, die Cum-Ex-Geschäfte zu entschlüsseln
Martin S. hat sie, aber auch andere Finanzakteure zum Teil schwer belastet mit seinen Aussagen. Und weil die Materie so komplex ist, fertigte er während der Vernehmungen immer wieder kleine Zeichnungen in eher unleserlicher Handschrift an, mit Abkürzungen, Symbolen und Pfeilen, die verschiedene Kreise verbinden. Sie zeigen, wie die Deals funktionieren, wie das System so erfolgreich sein konnte.
Kurz: Martin S. hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Kölner Staatsanwaltschaft die Cum-Ex-Geschäfte Stück für Stück entschlüsseln konnte. Das hat auch Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker am ersten Prozesstag bestätigt. Heute nun soll er diese Aussagen vor dem Landgericht in Bonn zumindest in gekürzter Form wiederholen. Weil die Aussage so umfangreich ist und vom Englischen ins Deutsche übersetzte wird, hat das Gericht noch nicht festgelegt, ob Martin S. einen oder zwei Tage aussagen wird. Auch, ob er wird zeichnen dürfen, ist im Vorfeld nicht durchgesickert. Klar aber ist: Es wird spannend am zweiten Prozesstag.