Süddeutsche Zeitung

Crowdworking:Masse Mensch

Millionen Menschen suchen auf Online-Plattformen Jobs. Die Crowdworking-Idee birgt Potenzial, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt könnten aber enorm sein.

Von Louis Groß

Pascal Saugy sitzt im Hörsaal und hat Langeweile. Er holt das Smartphone aus der Tasche und beginnt über eine App kleine Aufträge, sogenannte Mikrojobs, anzunehmen. Geld verdienen mit ein paar Klicks - so lautet das Versprechen. Die App ist kostenlos und auch wenn die Beträge nicht groß sind - für den Studenten lohnt es sich. Später wird Saugy ganze Routen planen, um die Aufträge nach der Vorlesung möglichst effektiv abzuarbeiten.

Saugy ist Crowdworker der ersten Stunde: Crowdworker sein, das heißt, Arbeit zu verrichten, die über eine Website, App oder andere Online-Plattform vermittelt wird. Und auch wenn Saugys Studententage mittlerweile vorbei sind, Mitglied bei der App Streetspotr - hierzulande eine der ersten Plattformen für Mikrojobs - ist er immer noch. Inzwischen hat er mehr als tausend der kleinen Aufgaben absolviert.

Das Internet schafft Raum für eine Vielzahl solcher Geschäftsideen, die das altmodische Bild einer zeit- und ortsabhängigen Arbeitswelt verändern. Nie war es einfacher als im Zeitalter der Tablets und Smartphones, in kürzester Zeit große Menschenmassen zu erreichen. Spenden werden mittels Crowdfunding gesammelt. Warum also nicht auch einfache, temporäre Aufgaben an viele Menschen auslagern?

Hört man Saugy über seine Anfangsjahre sprechen, spürt man, wie die Begeisterung in ihm wächst. Ein bisschen sei es gewesen wie eine digitale Schnitzeljagd, erzählt er. Er jagte mit dem Rad durch die Stadt, fotografierte Supermarkt-Regale, testete Smoothies oder Schokolade und versuchte undercover herauszufinden, welche Marken in Fachgeschäften von Elektronikfachhandel bis Drogeriekette empfohlen wurden.

Heute weiß er genau, wie viel Zeit er für bestimmte Aufgaben braucht und nimmt nur noch die an, die einen vernünftigen Stundenlohn versprechen. Er weiß auch, in welchen Läden oder Cafés er Steckdosen nutzen kann, wenn er den Akku seines Smartphones laden muss. Wenn es gut läuft, verdiene er zwischen acht und zwölf Euro in der Stunde, erzählt der 29-Jährige. "Für Anfänger ist das jedoch unrealistisch", die meisten Anbieter hätten Systeme eingeführt, die die alten Hasen bevorzugten. Für wen er die Informationen sammelt, weiß Saugy dagegen auch heute noch nicht: "Klar, wenn ich überprüfen soll, ob ein Fachhändler die Geräte von einem bestimmten Elektronikhersteller empfiehlt, kann ich mir das natürlich denken. In der Regel wird der Auftraggeber aber nicht genannt", sagt Saugy.

Die meisten Menschen verdienen sich mit Mikrojobs nur ein Zubrot

Natascha Müller, Marketingchefin von Streetspotr, sagt, hinter den Mikrojobs stünden Firmen, die Marktforschung betreiben, ihr Produkt oder ihre Werbung verbessern wollen. So geben Mikrojob-Plattformen zum Beispiel den österreichischen Getränkehersteller Red Bull, Süßwarenproduzent Ferrero, Tech-Konzerne wie Samsung oder LG, aber auch den niederländischen Navi-Hersteller Tomtom oder die Deutsche Bahn als ihre Kunden an.

Angenommen, ein Hersteller von Navigationssystemen bräuchte Informationen für seine Software - beispielsweise Fotos verschiedener Tankstellen. Früher hätten Logistik, Zeit und Fahrtkosten aufgewendet werden müssen, das erledigt nun eine Masse an Smartphone-Nutzern. Sie wohnen um die Ecke, kommen zufällig vorbei oder sie jagen, so wie Saugy, bewusst von einem Auftrag zum nächsten - pro Foto gibt es dann einen Obolus.

Im Vorübergehen Geld verdienen also? Es sei eine Gewinn-Situation für alle Beteiligten, sagt Müller. "Die Nutzer verdienen etwas und für Firmen ist die Crowd günstiger, effizienter und schneller als übliche Kontrollmethoden durch Marktforschung oder Testkäufe." Und natürlich zweigt sich der Plattformbetreiber für die Vermittlung auch seinen Anteil ab. Im Durchschnitt zwischen 30 und 50 Prozent des Erlöses.

Das Phänomen beschränkt sich nicht auf den Einzelhandel, wie im Fall von Streetspotr. Im Jahr 2005 ging die von Amazon gegründete Plattform "Mechanical Turk" online. Anstatt - wie bei Amazon üblich - Produkte über eine Plattform zu verkaufen, wurde durch das Anbieten von Arbeit auf der Plattform die Arbeit selbst zu einem Produkt. Und muss sich nun den marktwirtschaftlichen Mechanismen von Angebot und Nachfrage unterwerfen. Das Konzept fand viele Nachahmer. Mittlerweile texten, designen oder programmieren Menschen auf Hunderten von Online-Portalen. Und nicht nur das - die Taxifahrer von Uber oder die Fahrradkuriere des Essenslieferdienstes Deliveroo gehören genauso dazu wie Sexarbeiter auf dem Portal Ohlala.

Wie viele Crowdworker es gibt, lässt sich kaum sagen. So wie Saugy verdienen sich die meisten Menschen in Deutschland mit den Mikrojobs nur ein Zubrot. Nebeneinkünfte tauchen in offiziellen Arbeitsmarktstatistiken jedoch häufig nicht auf. In verschiedenen Studien variieren die Schätzungen der in Deutschland tätigen Crowdworker zwischen 0,3 Prozent und sechs Prozent der Erwerbsbevölkerung. Studien, wie die des Wirtschaftsinformatikers Jan Marco Leimeister, legen aber den Schluss nahe, dass das Arbeitsmodell auch hierzulande weiter an Bedeutung gewinnen wird. In den USA sind Mikrojobs längst ein Trend, viele Menschen verdienen damit ihren Lebensunterhalt.

Mit der neu gewonnenen Freiheit geht aber auch Unsicherheit einher. Das Machtverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gerät aus den Fugen. Im Jahr 2010 beschrieb der Amerikaner Lukas Biewald, Chef der Plattform Figure Eight - die damals noch Crowd-Flower hieß - die Situation der Nutzer so: "Bevor es das Internet gab, wäre es sehr schwer gewesen, jemanden zu finden, der [...] zehn Minuten für dich arbeitet und danach feuerst du ihn wieder. Jetzt kannst du ihn finden, ihn mit einem winzigen Geldbetrag bezahlen und ihn wieder loswerden, wenn du ihn nicht mehr brauchst."

Wenn man Jobs überall erledigen kann, steht man in Konkurrenz mit Menschen von überall

Gewerkschaften zeigen sich daher besorgt: "Die meisten Crowdworker sind Selbstständige und haben deshalb oft nur eine geringe soziale Absicherung und lediglich einen begrenzten Schutz vor unfairen Arbeitsbedingungen", sagt Robert Fuß, Vorstandsmitglied bei der IG-Metall. Seit einigen Jahren setzt sich die Gewerkschaft für die Arbeiter auf Online-Plattformen ein. Fuß fordert eine Reform des Arbeitsrechts. Auf den Anspruch auf Mindestlohn, bezahlten Urlaub und eine paritätisch getragene Sozialversicherung müssten sie ebenso verzichten, wie auf eine Absicherung im Krankheitsfall - "da muss noch eine Menge getan werden", sagt Fuß. Den Einwand, dass es in Deutschland nur verhältnismäßig wenige Crowdworker gebe, lässt der Gewerkschafter nicht gelten. "Beim Thema Leiharbeit haben auch viele gesagt: Das kann ja nicht so schlimm sein, das betrifft nur einen Bruchteil der Beschäftigten. Trotzdem hat Leiharbeit Einfluss auf die Arbeitsverhältnisse, die tariflich geregelt sind."

Eine der größten Herausforderungen sieht Fuß vor allem darin, über Landesgrenzen hinweg Regelungen zu schaffen. Wenn Arbeit zu jeder Zeit und an jedem Ort erledigt werden kann, steht man auch in Konkurrenz mit Menschen von überall. Es braucht dazu nur eine stabile Internetverbindung. In einer kürzlich veröffentlichten Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung offenbart sich das Dilemma der freien, grenzenlosen Arbeitsweise. Dort registrierten Forscher eine steigende Anzahl von Mikro-Aufträgen aus der Autoindustrie, in denen die Plattformnutzer Bilder von Verkehrssituationen pixelgenau auswerten sollten. Das Ziel: Künstliche Intelligenz trainieren, die dann in selbstfahrenden Autos zum Einsatz kommt.

Die Forscher stellten fest: Ein Großteil der Jobs wurde in Venezuela bearbeitet. "Die Arbeit fließt tendenziell dorthin, wo Menschen bereit sind, sie für den geringsten Preis zu erledigen", sagt Fuß. Da die Aufträge in Dollar vergütet werden, sind Menschen in Venezuela bereit, für wenig Geld zu arbeiten. Billiger können Unternehmen Aufgaben kaum auslagern.

Im deutschsprachigen Raum haben sich immerhin einige Plattformen bereit erklärt, lokale Lohnstandards stärker zu berücksichtigen. Fuß heißt die Initiative, bei der auch die IG Metall mitgewirkt hat, gut: "Es ist eine freiwillige Vereinbarung von acht Plattformen, die mit gutem Beispiel vorangehen, damit online kein Wilder Westen herrscht." Immerhin ein Anfang.

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Quelle:
SZ vom 31.07.2019
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