Dieser Text beginnt mit einer absurd klingenden Bitte: Blicken Sie kurz vom Bildschirm auf und beobachten Sie Ihr direktes Umfeld, in dem Sie gerade sind. Und stellen Sie sich dann kurz vor, wie anders Ihre aktuelle Situation wäre, wenn nur eine Sache fehlen würde: Wie wäre Ihr Leben jetzt, wenn es kein Internet geben würde?
Klar, Sie würden diesen Text nicht lesen können. Er steht im Internet. Aber viel schlimmer: Die aktuelle gesellschaftliche Ausnahmesituation wäre vermutlich noch bedrückender als sie schon ist. Während die Welt im Corona-Stress versucht, einen angemessenen, vielleicht sogar gelassenen Umgang zu finden, erlebt jene Technologie einen Schub, über die in den vergangenen Jahren gerade in Deutschland äußerst kritisch geurteilt wurde. Das Internet beweist in diesen Tagen, dass es ein Geschenk für die Menschheit ist.
Nein, das blendet nicht aus, dass aktuell über das Netz eine Welle an Gerüchten und Falschinformationen mit Bezug auf das Corona-Virus gespült wird. Auch die Hasskommentare und Verleumdungen, die das sogenannte soziale Web zutage fördert, sollen damit nicht kleingeredet werden. Es ist nur so, dass diese Beschwichtigungen und Bedenken allesamt aus der Vor-Corona-Zeit stammen. Sie beschreiben eine vor-digitale Haltung, die das Internet für eine nette Zusatzoption hielt.
Wie die Sonderausstattung beim Auto - das war einmal
Vor der aktuellen Krise war das Internet für viele so etwas wie die Sonderausstattung im Auto: Spielerei, für Fans interessant, aber für die Fortbewegung in Wahrheit irrelevant. Manche hielten den digitalen Bonus gar für gefährlich. Das ändert sich jetzt schlagartig. Die Corona-Krise führt auch den Digital-Skeptikern die Tragweite der weltweiten Vernetzung vor Augen. Das Internet ist - um ein Wort aus der letzten großen Krise 2008 zu bemühen - "too big to fail": Es ist systemrelevant. Ende der Geschmacksdebatte.
Der größte deutsche Internet-Knotenpunkt DE-Cix in Frankfurt hat dieser Tage einen Rekord vermeldet: 9,1 Terabit an Daten wurden vergangene Woche in einer Sekunde ausgetauscht. So viel wie noch nie zuvor. In der Pressemitteilung heißt es: "Internet-Nutzung spielt eine immer größere Rolle." Der Satz klingt wie aus einem Zukunftsessay aus den 1990er Jahren, ist aber eine Zustandsbeschreibung aus dem Frühjahr 2020. Die Corona-Krise ist ein gesellschaftlicher Umkipp-Punkt, an dem auch die skeptischen Teile der Gesellschaft die seit Jahren beschriebenen Möglichkeiten in die Tat umsetzen.
Soziale Distanz halten, ohne auf die Verbindung zu anderen Menschen zu verzichten; außerhalb des Büros arbeiten und trotzdem auf Daten zugreifen; unterrichten, ohne in einem Klassenzimmer zu sitzen: Wie sollte all das gehen, gäbe es das Internet nicht? Netzbetreiber haben begonnen, Zugänge ins Internet für die Zeit der Krise kostenlos anzubieten.
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Eine App schickt Menschen in Quarantäne, Schüler salutieren der Flagge vor dem Computer: Besonders der Alibaba-Konzern profitiert, und die Regierung überwacht die Bevölkerung noch engmaschiger.
Endlich wird genutzt, was zur Verfügung steht
Wo das soziale Leben offline heruntergefahren wird, wird das soziale Leben online gerade hochgefahren. Das wird langfristige Folgen haben. Lesungen werden jetzt ins Netz verlegt, Konzerte gestreamt und sogar Unterricht findet auf digitalen Plattformen statt. Der Kollege Andrian Kreye hat dies unlängst als "Zwangsdigitalisierung" beschrieben. Vielleicht ist es aber auch ein notwendiger Schritt im Erwachsenwerden einer Technologie: Endlich wird alles genutzt, was zur Verfügung steht.
In jedem Fall wird der Blick auf das Internet nach der Corona-Krise ein anderer sein als davor. Bisher war das Netz erst Programmergänzung ("Finden Sie mehr Informationen auf unserer Website"), dann Hype-Thema ("Bei uns ist jetzt alles online-first"). Aber stets war es eine Ausnahme, eine Besonderheit. Durch Corona wird das Internet zur Selbstverständlichkeit. Das Bild, das so entsteht, ist nicht das von Optimisten oder Pessimisten, sondern das von Realisten. Denn die Vorsichtigen und Zweifelnden, die bisher voller Sorge am Beckenrand standen, werden nach dem unfreiwilligen Sprung ins Wasser, den Corona bedeutet, besser übers Schwimmen mitreden können als jemals zuvor. Sie werden Wasser schlucken und ungelenk herumplanschen - wie das alle tun, die schwimmen lernen. Aber sie werden danach aus eigenem Erleben neue Perspektiven kennen und gemeinsam mit anderen im virtuellen Becken vielleicht sogar Schwimmstile entwickeln, die wir noch gar nicht kennen.
Das gilt für alle Bereiche der Vernetzung. Wer bisher dachte, "Home Office" sei nur ein anderes Wort für "auf dem Sofa sitzen", hört nun über verrauschte Video-Konferenzen richtig gute Ideen und sinnvolle Vorschläge. Wer annahm, Unterricht sei nur in einem Raum zur gleichen Zeit möglich, erfreut sich an der Möglichkeit, über digitale Plattformen oder kurze Videoclips Wissen zu vermitteln. In allen Fällen entsteht Neues: Menschen erfinden Regeln, um sich in Videokonferenzen nicht ständig ins Wort zu fallen; entwickeln Methoden, um auch im Fernunterricht Intensität entstehen zu lassen.
Natürlich ist das Internet immer nur so gut wie die Gesellschaft, die es nutzt. Daraus erwächst der Auftrag an alle, die sich jetzt darüber verbinden: Hört auf zu klagen und beginnt, dieses Geschenk nach den Werten einer freien und offenen Gesellschaft zum Wohl aller zu nutzen! Das gilt in der aktuellen Ausnahmesituation, aber vor allem danach. Die Only-Online-Phase dieser Tage wird dann hilfreich sein. Denn erstmals wird die Generation derjenigen, die vor dem Internet geboren wurden, aus eigenem Erleben von einer Erfahrung berichten, die die Eingeborenen des Digitalzeitalters seit Jahren verbindet: Sie werden spüren, wie großartig, wie hilfreich digitale Vernetzung sein kann.
Das ist eine gute Nachricht. Nicht nur, weil es sonst gerade so wenige gibt.