Süddeutsche Zeitung

Einzelhandel:Wie sich das Einkaufsverhalten der Deutschen wandelt

In der Corona-Krise ändert sich nicht nur, was die Menschen einkaufen, sondern auch wie. Lokale Produzenten dürften profitieren - Ketten wie Edeka, Rewe, Lidl und Aldi bekommen ein Problem.

Von Michael Kläsgen

Plexiglas an der Kasse im Supermarkt, mit Klebeband auf dem Boden markierte Abstandsregeln, nur eine limitierte Kundenzahl im Laden und nach hinten verschobene Lieferfenster beim Online-Einkauf für Lebensmittel - das ist die neue Realität im Handel seit den Ausgangsbeschränkungen wegen des Coronavirus. Diverse Umfragen und Statistiken zeigen, welche Produkte die Menschen weltweit wegen Covid-19 verstärkt nachfragen: mehr Desinfektionsmittel, Nudeln, ja und auch Klopapier. Interessanter noch ist die Frage, was von den veränderten Kaufgewohnheiten bleibt. Oder anders ausgedrückt: was die neue Normalität nach Corona sein wird. Darauf kann es keine eindeutigen Antworten geben, niemand hat die Glaskugel in der Hand, aber deutliche Anzeichen auf der Basis von Umfragen, die gibt es schon.

Laut einer Umfrage der Strategieberatung Oliver Wyman unter 9000 Konsumenten in neun Ländern wird die Corona-Krise das Einkaufsverhalten von 14 Prozent der befragten Verbraucher in Deutschland auf Dauer verändern, nämlich für mehr als zwölf Monate. Weitere 36 Prozent sagen, sie werden mindestens fünf Monate anders einkaufen als zuvor. Viele Menschen wollen eher auf lokale Lebensmittel zurückgreifen und mehr zu Hause kochen. "Wir gehen davon aus, dass die Veränderungen im Einkaufsverhalten mit jeder Krisenwoche nachhaltiger werden", sagt Wyman-Handelsexperte Rainer Münch. "Die Einzelhändler werden sich zunehmend auf eine neue Normalität nach der Krise einstellen müssen." Denn neben dem Mehr-zu-Hause-Kochen gibt es noch zahlreiche weitere Veränderungen.

Voraussichtlich werden die Händler dauerhaft mehr Risikovorsorge treffen müssen. Sie werden ein eigenes Interesse daran haben, Bestände von bestimmten Produkten aufzubauen, darunter auch Nudeln. Sie werden fortan wohl stärker auf lokale Lieferanten setzen, um Ware immer verfügbar zu haben - und sie werden womöglich höhere Gehälter zahlen müssen, da die Systemrelevanz des Lebensmitteleinzelhandels nun offensichtlich geworden ist. Käme es so, wäre das mehr als bemerkenswert in dieser Branche, in der laut der Gewerkschaft Verdi zwei Drittel der Geschäfte ihre Beschäftigten nicht einmal nach dem Flächentarifvertrag bezahlen und die Flucht aus der Tarifbindung ein Wettbewerbsvorteil ist.

Aus diesem gesamten Veränderungsmix könnte sich daher nach Ansicht der Wyman-Experten eine Kostenexplosion zusammenbrauen, von der im Moment nicht klar ist, wer sie am Ende finanzieren wird. Denn zu den höheren Kosten trägt wesentlich eine weitere Veränderung des Einkaufsverhaltens bei: Die Verbraucher kaufen Lebensmittel so stark online ein wie nie zuvor, auch in Deutschland, wo die Dichte an Lebensmittelgeschäften eigentlich größer ist als anderswo. Sie sind auch bereit, mehr Geld für Lebensmittel auszugeben, und das bei geringerem Haushaltseinkommen, wie ein Viertel der Befragten angab.

Der Trend hin zum Lebensmitteleinkauf online wird von vielen anderen bestätigt, darunter dem Zahlungsdienstleister Klarna. Der untersuchte, welche Altersgruppen bestimmte Produktkategorien online besonders nachfragten. Die Studie ergab, dass Lebensmittel und Getränke über alle Altersgruppen hinweg am begehrtesten waren. Es handelt sich daher um ein breites gesellschaftliches Phänomen. "Vielleicht werden wir am Ende der Krise ein nachhaltig verändertes Bild des Einkaufsverhaltens in Deutschland sehen, das am Ende noch digitaler ist als bisher", sagt Robert Bueninck, Deutschland-Geschäftsführer von Klarna.

Die Corona-Krise wird wohl zum Einfallstor für Amazon

Auch der Trend zum Online-Einkauf zeigt: Die Verbraucher probieren mehr aus, sie legen Gewohnheiten ab, kaufen seltener, aber dafür mehr pro Einkauf ein. Und sie kaufen dort, wo sie es vor wenigen Wochen noch nicht taten. Auch das stellt Händler vor Herausforderungen, nicht weil das Angebot nicht da wäre, sondern weil sie sich erst einmal darauf einstellen müssen. Doch damit tun sich viele schwer.

Björn Asdecker, Handelsexperte der Universität Bamberg, prophezeit daher, dass die Veränderungen groß und nachhaltig sein werden. "Das Coronavirus wird in nächster Zeit nicht verschwinden - ganz im Gegenteil", sagt er. "Realistisch betrachtet wird die Corona-Krise die Wirtschaft nicht nur über Tage und Wochen, sondern vielmehr über mehrere Monate prägen und trotz aller Hilfspakete tiefe Spuren hinterlassen und Opfer fordern." Dazu gehört, dass die Anzahl der leeren Regale seiner Ansicht nach in naher Zukunft nicht ab-, sondern eher zunehmen und zu entgangenen Umsätzen führen wird.

Die wichtigste Änderung werde aber sein, dass die Corona-Krise zum Einfallstor für einen neuen, mächtigen Wettbewerber werden wird: Amazon. Der Grund: Die großen vier Händler Edeka, Rewe, die Schwarz-Gruppe (Lidl) und Aldi, die zusammen über einen Marktanteil von mehr als 85 Prozent verfügen, werden der gesteigerten Online-Nachfrage nicht gerecht. Sie können sie derzeit nicht bedienen. "Sofern eine Zustellung überhaupt noch angeboten wird, beträgt die Lieferzeit aktuell mehrere Wochen", stellt Björn Asdecker fest. Seine Prognose: "Mit der bekannten logistischen Servicequalität wird es Amazon gelingen, in kurzer Zeit neue Kundengruppen zu erschließen und sich nach Ende der Pandemie dauerhaft zu behaupten, sofern es die etablierten Lebensmittel-Einzelhändler nicht schaffen, diese offene Flanke zu schließen." Wer derzeit nach einem offenen Lieferfenster für den Lebensmitteleinkauf sucht, hat Zweifel, dass sie es schaffen werden.

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SZ vom 18.04.2020/vit
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