Süddeutsche Zeitung

Corona-Krise:Millionen Deutschen fehlt das Geld für Urlaub

Ausgerechnet die Ärmsten trifft die Pandemie besonders. Immer mehr Bürger fürchten eine wachsende Ungleichheit - und kritisieren das Krisenmanagement der Regierung.

Von Alexander Hagelüken

Weil sich die Wirtschaft erholt, haben weniger Deutsche Angst um ihren Job als im Winter. Allerdings sorgen sich wegen der Corona-Krise viele um den sozialen Zusammenhalt, zeigt eine Befragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI). Millionen Menschen können sich keine Urlaubsreise leisten. "Der erhoffte Sommer der Befreiung bleibt für viele aus", bilanziert WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch.

Das gewerkschaftsnahe Institut befragt seit Ausbruch der Pandemie regelmäßig Arbeitnehmer, wie es ihnen geht. Dabei zeigt sich eine gewisse Besserung. Während sich im Januar noch 40 Prozent von der Gesamtsituation belastet fühlten, war es im Juli nur noch gut ein Viertel. Das liegt auch daran, dass Eltern im Winter stark von fehlender Kinderbetreuung und Homeschooling betroffen waren. Seit Geschäfte und Restaurants wieder öffnen, schrumpft auch die Angst um den Job. Die allermeisten Befragten befürchten allerdings, dass der soziale Zusammenhalt schwindet.

35 Millionen Europäer können sich keinen Urlaub leisten

Dazu passt die Situation in der Urlaubszeit. Fast 4,5 Millionen Deutschen fehlt das Geld, um in die Ferien zu fahren. Das ergibt sich aus Daten der EU-Statistikbehörde, die der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) ausgewertet hat. Demnach ist die Lage in anderen EU-Staaten noch weit schlechter. Insgesamt können sich 35 Millionen Europäer nicht leisten, auch nur eine Woche zu verreisen. Von armutsgefährdeten Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens haben, trifft es mehr als jeden zweiten. Dabei nahm der Abstand zu besser verdienenden Bürgern binnen eines Jahrzehnts in mehr als der Hälfte der Mitgliedsstaaten zu.

"Dieser Anstieg zeigt, dass die Früchte des Wachstums nicht fair verteilt wurden", sagt EGB-Generalsekretärin Esther Lynch. "Eine Urlaubsreise darf nicht zum Luxus werden." Millionen Arbeitnehmer könnten nicht wegfahren, weil sie zu wenig verdienten. Der Dachverband versucht, EU-Regierungen und Parlament zu bewegen, staatliche Mindestlöhne grundsätzlich auf mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns im Land festzusetzen. Das würde für 24 Millionen Europäer eine Lohnerhöhung bedeuten. In Deutschland müsste der Mindestlohn von heute unter zehn auf etwa zwölf Euro die Stunde steigen. So fordern es auch Grüne, SPD und Linke in ihren Wahlprogrammen.

Die Befragung des WSI-Instituts belegt, dass die meisten Arbeitnehmer durch die Pandemie mehr Ungleichheit fürchten. "Viele registrieren ganz offensichtlich genau, was im Land gut funktioniert und was nicht", analysiert Bettina Kohlrausch. Auf der einen Seite arbeite sich Deutschland aus der Krise, was die wirtschaftliche Entwicklung oder die Impfquoten betreffe. Ein funktionierendes Sozial- und Gesundheitssystem schaffe Stabilität. Auf der anderen Seite sähen die Arbeitnehmer bekannte oder neue Ungleichheiten auftreten.

Zwei Drittel der Frauen geben an, überwiegend die Kinderbetreuung zu übernehmen

So haben Menschen, die schon vor der Corona-Krise wirtschaftlich schlechter gestellt waren, während der Pandemie häufiger Einkommen eingebüßt als andere. Das betraf mehr als die Hälfte jener, deren Haushalt schon vor der Pandemie weniger als 2000 Euro netto monatlich zur Verfügung hatte. Andere Studien zeigen, dass in der Pandemie überproportional viele Zeitarbeitsjobs und Stellen für geringer Qualifizierte wegfielen. Und wer wenig verdient, für den wird es beispielsweise bei kürzeren Arbeitszeiten trotz des Kurzarbeitergelds schnell knapp.

Die Bürger registrieren zunehmend, dass die Pandemie Lücken im sozialen Sicherungssystem offengelegt hat. WSI-Direktorin Kohlrausch sieht das als einen Grund dafür an, warum sich eine Mehrheit der befragten Arbeitnehmer inzwischen unzufriedener mit dem Krisenmanagement der Politik zeigt. Der Anteil nahm seit 2020 zu. "Die Sicherungsmechanismen des Sozialstaats dürfen in Folge der Pandemie nicht geschwächt werden, etwa mit der Begründung, es sei kein Geld mehr da", warnt Kohlrausch.

Eine zunehmende Unwucht gibt es bei Eltern. Im Juli gaben zwei Drittel der Frauen an, überwiegend die Kinderbetreuung zu übernehmen. So hoch war der Wert seit Ausbruch der Pandemie noch nie. Jede siebte Mutter reduzierte deshalb ihre Arbeitszeit und verdiente weniger.

Aufschlussreich sind die Antworten zum Impfen. So lehnt nur jeder dritte Ungeimpfte den Corona-Piks entschieden ab, meist, weil er das Virus für weniger gefährlich hält, als von Fachleuten dargestellt. Gerade bei Haushalten mit weniger als 2000 Euro Netto-Einkommen gibt es viele womöglich noch Impfwillige. Das spricht dafür, dass sich mit Anreizen und Angeboten mit niedrigen Schwellen noch viele Bürger zum Impfen bewegen lassen.

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