Süddeutsche Zeitung

Sozialpolitik:Welche Menschen Corona-Hilfen bekommen - und welche nicht

Alle EU-Regierungen mussten ihr Sozialsystem ausweiten, um die Folgen der Corona-Krise halbwegs abzufedern. Manche Gruppen sind weiterhin nur unzureichend geschützt, zeigt eine Studie.

Von Björn Finke, Brüssel

Das soziale Netz in Europa gilt als recht solide - vor allem im Vergleich mit den USA. Und doch waren die Sozialsysteme der EU-Mitgliedstaaten mit der Corona-Wirtschaftskrise überfordert. Jede der 27 Regierungen musste Sozialleistungen ausweiten oder neue Hilfsprogramme einführen, um zu verhindern, dass die heftige, langandauernde Krise manche Gruppen von Bürgern ohne ausreichenden Schutz trifft. Dies ist das Ergebnis einer Studie des Brüsseler Forschungsinstituts Etui; die Einrichtung gehört zum europäischen Gewerkschafts-Dachverband Etuc. Der Report wird an diesem Donnerstag veröffentlicht und liegt der Süddeutschen Zeitung vorab vor.

Demnach gestalteten 24 Mitgliedstaaten die Arbeitslosen- und Sozialhilfe großzügiger: Beträge oder Bezugsdauer wurden erhöht, die Voraussetzungen für den Erhalt herabgesetzt. In 20 Ländern weiteten die Regierungen Kranken- und Elterngeld aus, indem sie etwa die vorgeschriebene Wartezeit verringerten. "Die Covid-Krise hat die riesigen Lücken in Europas Sozialsystemen bloßgestellt", sagt Etuc-Vorstandsmitglied Liina Carr.

Der Fokus der Studie liegt darauf, ob und wie Bürger in nicht-regulären Beschäftigungsverhältnissen geschützt sind. Dies sind zum Beispiel Scheinselbständige, die für Essens-Lieferdienste wie Deliveroo tätig sind, oder Mitarbeiter, denen keine feste Stundenzahl pro Woche garantiert wird. Die Sozialversicherungen bringen solchen Beschäftigten oft nur wenig. In der Corona-Krise führten Regierungen dann Notfallprogramme ein, die auch Selbständige unterstützten, heißt es in dem Bericht.

Es trifft vor allem die Ärmsten

Trotzdem halfen all die Verbesserungen in der Pandemie in erster Linie Beschäftigten mit regulärem Arbeitsvertrag, die ohnehin einen einfachen Zugang zum Sozialsystem haben. "Es sind die ärmsten und benachteiligtsten Mitglieder der Gesellschaft, die durch die Lücken im sozialen Netz fallen, vor allem Frauen, ethnische Minderheiten und junge Leute", klagt Etuc-Funktionärin Carr.

Die Studie bemängelt zudem, dass viele Verstärkungen der Sozialsysteme nur befristet und teilweise schon wieder ausgelaufen sind. Carr sagt aber, die "Notfall-Maßnahmen zeigen, dass Wandel möglich ist". Die EU-Regierungen sollten die Verbesserungen dauerhaft in Kraft lassen - und auf alle Beschäftigten ausweiten, auch jene ohne regulären Vertrag, fordert die estnische Gewerkschafterin.

Sozialpolitik ist Sache der Mitgliedstaaten, nicht der EU. Trotzdem will die EU-Kommission bis Ende des Jahres einen Gesetzesvorschlag unterbreiten, der die Arbeitsbedingungen nicht-regulär Beschäftigter verbessern soll, die ihre Aufträge über Internetplattformen wie Deliveroo oder Uber erhalten. Dies bekräftigte die Brüsseler Behörde erst vorigen Monat, als sie einen "Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte" vorlegte.

Brüssel plant neue Gesetze - das ist umstritten

Diese Säule besteht aus 20 Grundsätzen, die ein EU-Gipfel vor vier Jahren in Göteborg beschlossen hat. Hier geht es um eher unstrittige Ziele wie Chancengleichheit, gute Gesundheitsversorgung und anständige Löhne. Der portugiesischen Regierung, die im Januar die rotierende Ratspräsidentschaft der EU übernommen hat, ist das Thema wichtig; sie lädt daher Anfang Mai zu einem Sozialgipfel nach Porto.

Die Kommission will die hehren Ziele aus der sozialen Säule Stück für Stück mit Aktionen unterfüttern, etwa Gesetzesvorschlägen - obwohl Brüssel in dem Bereich kaum Kompetenzen hat. Schon im Herbst präsentierte Sozialkommissar Nicolas Schmit einen umstrittenen Richtlinienentwurf zu Mindestlöhnen. Der setzt war keine Gehaltsuntergrenzen fest, soll aber regeln, auf welche Art die Mitgliedstaaten ihre Mindestlöhne bestimmen. Wird der Vorschlag Gesetz, müsste wohl auch Deutschland sein System anpassen.

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