Gleichberechtigung:Wissenschaftler fordern neun Jahre Auszeit

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Graffito des Künstlers Banksy in London: Unbezahlte Tätigkeiten wie Putzen oder die Sorgearbeit bleiben häufig bei den Frauen hängen. (Foto: Vaishal Dalal/Wiki Commons (CC BY 3.0 DE))

Wie lässt sich Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen besser und gerechter organisieren? Wissenschaftler schlagen ein Zeitbudget für alle vor - zum Kümmern oder Weiterbilden.

Von Barbara Vorsamer, München

Die Corona-Krise rückt in den Fokus, was lange viel zu wenig Beachtung in Politik und Wirtschaft gefunden hat: die sogenannte private "Sorgearbeit". Kinderbetreuung, Reinigungsarbeiten und die Pflege von alten und kranken Angehörigen sind systemrelevant. Diese Tätigkeiten werden in Deutschland jedoch überwiegend in Privathaushalten erledigt, überwiegend von Frauen und überwiegend unbezahlt. Das geltende Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht nimmt darauf wenig bis keine Rücksicht, sämtliche Systeme wie beispielsweise die Rente basieren auf der Norm des mehrere Jahrzehnte ununterbrochen erwerbstätigen Menschen. Die Nachteile sind bekannt: Frauen, die ihre Erwerbsarbeit reduzieren, haben Nachteile auf dem Arbeitsmarkt, Einbußen beim Gehalt und der Absicherung im Alter. Männer wiederum verbringen weniger Zeit mit ihrer Familie als sie es Umfragen zufolge gerne würden.

Eine mögliche Lösung haben nun die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und der Universität Bremen in einem Forschungsprojekt entwickelt, das vom Bundesarbeitsministerium gefördert wurde: ein "Optionszeitenmodell". Demzufolge sollen alle Menschen über ein Zeitbudget von neun Jahren verfügen, das sie für Sorgetätigkeiten, Weiterbildung oder Selbstfürsorge verwenden können. Finanziert werden sollen diese Auszeiten jeweils von jenen, denen sie zugute kommen: teils vom Staat durch Steuernachlässe, teils von den Unternehmen, teils von den Arbeitenden selbst. Eine vom Parlament kontrollierte Instanz soll das System verwalten. Als Vorbild nennen die Forscher das französische Konzept eines persönlichen Aktivitätskontos ( Compte Personnel d'Activité, kurz CPA).

Schon jetzt gibt es die Möglichkeit zur Elternzeit, es gibt Brückenteilzeit, Pflegeauszeiten und in vielen Unternehmen auch die Möglichkeit für Sabbaticals. "Neu an unserem Modell ist, dass wir all das in einem politischen Modell zusammengeführt und mit einem Rechtsanspruch versehen haben", sagt Karin Jurczyk, bis Ende 2019 Leiterin der Abteilung Familie des DJI. Bislang müsse jeder Arbeitnehmer alles einzeln beantragen und es gebe zahlreiche Ausnahmen. "Unser Ziel ist eine neue Norm zu schaffen, in der Unterbrechungen und Verkürzungen der Erwerbsarbeit als üblich gelten", so die Wissenschaftlerin. Dass das gelingen könne, habe man beim Elterngeld gesehen. Seitdem es den vollen Bezugszeitraum nur gibt, wenn beide Partner mindestens zwei Monate in Anspruch nehmen, haben sich Vätermonate als gefühlter Standard etabliert. Die Kehrseite: Wenn überhaupt, nehmen die meisten Väter allerdings auch nur diese zwei Monate.

Die Forscher schlagen auch vor, wie man die Optionszeiten finanzieren könnte

Optionszeiten sollen deshalb "ad personam" gelten, neun Jahre für jeden, sechs Jahre davon für Fürsorgetätigkeiten. Nimmt ein Vater dies nicht in Anspruch, kann die Mutter diese Zeit nicht übernehmen. Doch ohne flankierende Maßnahmen wird auch das Optionszeitenmodell keine Gleichberechtigung bringen. Dafür müssten zugleich die Gehaltsunterschiede und Geschlechterstereotype aufgebrochen werden. Auch der Ausbau der Infrastruktur für Kinderbetreuung und Pflege sowie eine bessere Bezahlung der sozialen Berufe wären unabdingbar.

Das nun vorgestellte Optionszeitenmodell ist aber nicht nur eine Idee, sondern ein politisches Rechenmodell. Dazu gehört auch, das Arbeitsleben länger dauern zu lassen, indem "das Renteneintrittsalter flexibilisiert" wird. "Im Moment verdichtet sich alles in wenigen Jahren und dann sind die Menschen 20 Jahre im Ruhestand, oft bei guter Gesundheit", sagt Karin Jurczyk. Bei der Vorstellung im Arbeitsministerium sei das Modell nur teilweise auf Verständnis gestoßen. Dort herrsche noch die Vorstellung, man müsse einfach auch Mütter möglichst schnell wieder auf eine möglichst hohe Wochenarbeitszeit bringen, erzählt die Wissenschaftlerin. "Dabei kann das nicht funktionieren, private Sorgearbeit wird es weiterhin geben", sagt Jurczyk. Aus dem zuständigen Ministerium, das die Arbeit über das Netzwerk Interdisziplinäre Sozialforschung gefördert hat, heißt es dazu übrigens: "Analysen über den tagespolitischen Zeithorizont hinaus sind für das Bundesarbeitsministerium wichtig, um politische Gestaltungsbedarfe erkennen zu können. Wie auch andere wissenschaftliche Studien wird das Ministerium die Ergebnisse dieses Vorhabens in seine weiteren Überlegungen einbeziehen." Diese Antwort klingt nicht nach einer baldigen Umsetzung.

© SZ vom 08.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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