Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Die Freiheit nehm ich dir

Geht es nach Boris Johnson, ist am kommenden Montag "Freedom Day", das Ende der Corona-Beschränkungen. Doch ganz so wird es nicht kommen. Verkehrsbetriebe, Theater und Restaurants haben noch ein Wort mitzureden.

Von Alexander Mühlauer, London

In Großbritannien gibt es Menschen, die es kaum erwarten können, bis endlich Montag ist. Dann nämlich, am 19. Juli, ist "Freedom Day", so hat es Premierminister Boris Johnson verfügt. Von diesem Tag an sollen die Bürgerinnen und Bürger von all jenen Beschränkungen befreit werden, die ihnen die Pandemie aufgebürdet hat, zumindest in England. Die Vorfreude scheint bei manchen so groß zu sein, dass sie sich schon jetzt nicht mehr an die Corona-Regeln gebunden fühlen. Da ist etwa der ältere Herr, der am Dienstagabend in der Londoner Rush Hour ohne Maske im Bus sitzt. Oder die jüngere Frau, die sich einfach auf einen Sitzplatz in der U-Bahn fallen lässt, der eigentlich freigehalten werden soll. Noch gilt ja: social distancing, also Abstandhalten, please.

Wie es aussieht, dürfte sich das so schnell nicht ändern. Denn gegen die Freiheitsbekundungen des konservativen Premiers regt sich immer mehr Widerstand. Am deutlichsten wird das bislang in London. Dort verkündete Bürgermeister Sadiq Khan am Mittwoch, dass er entgegen des Regierungsbeschlusses an der Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr festhalten will. Der Labour-Politiker ordnete an, dass Mund- und Nasenbedeckungen weiter zu den Beförderungsbedingungen der staatlichen Verkehrsgesellschaft Transport for London gehören. Das heißt: Wer in der britischen Hauptstadt mit dem Bus oder der Tube fahren will, muss auch künftig Maske tragen.

Khan teilte via Twitter ziemlich unverblümt mit, dass er von Johnsons Freiheitsgerede nicht viel hält - und zwar weder gesundheitspolitisch noch ökonomisch. "Das Tragen von Gesichtsbedeckungen hilft, die Verbreitung des Coronavirus zu reduzieren, und gibt den Londonern damit das Vertrauen zu reisen - das ist zentral für unsere wirtschaftliche Erholung", schrieb der Londoner Bürgermeister. Und fügte hinzu: "Meine Maske beschützt dich, deine Maske beschützt mich." Dieser Grundsatz werde in der Hauptstadt "so lange gelten, wie wir uns noch Sorgen machen, dass das Virus übertragen wird".

Die Verunsicherung ist groß

London dürfte nicht allein bleiben mit dieser Entscheidung. In anderen großen Städten wie Manchester, Liverpool und Bristol sind die Bürgermeister bereits in Gesprächen mit privaten Transportunternehmen, um die Maskenpflicht beizubehalten. Sie haben die Gewerkschaften auf ihrer Seite, die vor womöglich verheerenden Gesundheitsfolgen für Busfahrerinnen und U-Bahn-Angestellte warnen. Einige private Zugunternehmen kündigten allerdings an, von Montag an nicht mehr auf Masken zu bestehen. Fluglinien wie Easyjet und Ryanair erklärten hingegen, dass an Bord weiter Mund-Nasen-Bedeckungen getragen werden müssen.

Die Verunsicherung in der Bevölkerung ist jedenfalls groß. Umfragen zufolge würde die Mehrheit gerne an der Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr festhalten. Das hat auch Johnson mitbekommen, und so stellte der Premier am Anfang der Woche klar, dass es empfehlenswert sei, Masken überall dort zu tragen, wo sich viele Menschen aufhalten, die man nicht kennt. Bleibt die Frage: Warum empfiehlt Johnson das nur? Oder anders ausgedrückt: Warum setzt er auf Eigenverantwortung und überlässt staatlichen Verkehrsbetrieben und privaten Unternehmen die Entscheidung, inwieweit Corona-Beschränkungen weiter gelten sollen?

Nun, im Regierungsviertel fällt die Antwort darauf relativ eindeutig aus: Die Mehrheit von Johnsons konservativen Unterhaus-Abgeordneten würde dem Premier wohl die Gefolgschaft verweigern, würde er die Corona-Maßnahmen trotz anderslautender Versprechen verlängern. Und so obliegt es nun vor allem der Wirtschaft, ihre eigenen Regeln zu setzen. Und die fallen ziemlich unterschiedlich aus.

Theater wollen Impfausweise sehen - Clubs nicht

Da sind einerseits die Theater in London, die sich darauf verständigt haben, dass Besucherinnen und Besucher einen Impfnachweis vorlegen müssen. Und da sind andererseits zwei der größten Clubbetreiber im Land, die von ihren Gästen beim Einlass überhaupt nichts verlangen, keinen negativen Test, keinen Impfnachweis, gar nichts. Die Leute sollen wieder tanzen und Spaß haben wie vor der Pandemie.

Da half es auch nichts, dass Johnson noch am Montag davon sprach, dass es eine "Frage der sozialen Verantwortung" sei, dass gerade Nachtclubs darauf pochen sollten, sich von ihren Gästen den sogenannten Covid-Pass zeigen zu lassen, den man in Großbritannien automatisch über die App des Gesundheitsdienstes NHS bekommt. Auch der Chef der UK Cinema Association will davon nichts wissen. Er machte klar, dass es keinerlei Auflagen beim Besuch von Kinos geben soll. Schließlich habe die Regierung ja verfügt, alle Corona-Beschränkungen fallen zu lassen.

Auch die Besitzer von Pubs, Cafés und Restaurants müssen sich überlegen, wie sie mit der von der Regierung verordneten Freiheit umgehen. Während sich große Pub-Ketten bereits auf ein Ende der Abstandspflicht freuen, gibt es Sterne-Restaurants, die wohl auch weiterhin die Körpertemperatur der Gäste messen werden und darüber nachdenken, künftig auch den Covid Pass am Eingang zu kontrollieren.

Nach Wembley und Wimbledon wird ganz England zu einem Versuchslabor

Fest steht nämlich, dass das Ansteckungsrisiko im Vereinigten Königreich noch immer hoch ist. So stieg die Zahl der Neuinfektionen innerhalb der vergangenen sieben Tage um gut 25 Prozent auf mehr als 36 000 Fälle. Der Inzidenzwert liegt bei 320, doch das scheint die Regierung nicht besonders zu beunruhigen. Johnson und seine wissenschaftlichen Berater verweisen auf die Zahl der Todesfälle und Krankenhauseinweisungen, die im Vergleich zur ersten und zweiten Corona-Welle auf niedrigem Niveau liegen. Der Optimismus der Regierung speist sich weiter aus der Impfkampagne. Bislang haben 87 Prozent der Erwachsenen die erste Impfung erhalten, 66 Prozent bereits die zweite.

Die Lockerungen, die von Montag an gelten sollen, sind unter britischen Wissenschaftlern hoch umstritten. Premier Johnson will trotzdem daran festhalten. Nachdem die Regierung die Spiele der Fußball-EM in Wembley und das Tennisturnier in Wimbledon mit vielen Zuschauern als Forschungsprojekte bezeichnet hatte, steht am Montag die nächste Stufe bevor, frei nach dem Motto: freedom is coming home. Ganz England, so scheint es, wird nun zu einem Versuchslabor.

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