Süddeutsche Zeitung

Tarifstreit:Wenn Verdi plötzlich Verständnis für den Arbeitgeber hat

Ausgerechnet die Angestellten einer Gewerkschafts-Firma erhalten keine Gehaltserhöhungen, sondern nur einen Corona-Bonus. Die Mitarbeiter machen Verdi schwere Vorwürfe.

Von Uwe Ritzer, Nürnberg

Wenn Gewerkschaften in diesen Zeiten ihre Mitglieder auf die Straße schicken, um bei Tarifverhandlungen zusätzlichen Druck auf die Arbeitgeber aufzubauen, dann geht es in der Regel um zwei Forderungen. Erstens: höhere Löhne und Gehälter. Zweitens: eine steuerfreie Einmalzahlung, vulgo Corona-Prämie. Letztere erlaubt der Gesetzgeber, um die zusätzlichen Belastungen der Pandemie für die Beschäftigten abzumildern. Davon, mit dem Corona-Bonus reguläre Lohnsteigerungen zu ersetzen, ist nicht die Rede. Die Sonderzahlung müsse "zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn erfolgen", so das Bundesfinanzministerium. Eine Vorgabe, auf die Gewerkschaften gegenüber Arbeitgebern gerne pochen. Sie selbst allerdings nehmen es nicht immer so genau damit.

Das zeigt ein Tarifvertrag, den die DGB Rechtsschutz GmbH als Arbeitgeber und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi abgeschlossen haben. Er ersetzt Lohn- und Gehaltssteigerungen durch den Corona-Bonus. "Würden das nichtgewerkschaftliche Arbeitgeber so machen, wäre das Geschrei der Gewerkschaften bundesweit groß", kritisiert ein altgedienter und betroffener Arbeitnehmervertreter. Er hält das Vorgehen seiner eigenen Organisation für "hanebüchen", ja, "gewerkschaftspolitisch geradezu skandalös und katastrophal".

Betroffen sind etwa 700 über ganz Deutschland verteilte Beschäftigte der DGB Rechtsschutz GmbH, einer hundertprozentigen DGB-Tochterfirma, die Gewerkschaftsmitgliedern bei arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen juristischen Beistand leistet. Das geschieht immerhin in etwa 120 000 Verfahren pro Jahr. Der aktuelle Gehaltstarifvertrag für diese Gewerkschaftsmitarbeiter läuft seit 2019 und hätte zum 31. August gekündigt werden können, um höhere Löhne und Gehälter durchzusetzen.

Tatsächlich trafen sich Vertreter des Arbeitgebers DGB Rechtsschutz GmbH mit solchen der Gewerkschaft Verdi zu Tarifverhandlungen. Mit dem Ergebnis, dass Löhne und Gehälter nicht angehoben, sondern mindestens 13 Monate bis Ende September 2023 eingefroren werden. Stattdessen gibt es für jeden Beschäftigten eine einmalige Corona-Prämie von 1000 Euro. Diese ersetzt also reguläre Gehaltserhöhungen, die sich die Rechtsschutz GmbH nun spart. Genau das wollte der Gesetzgeber aber erklärtermaßen verhindern, nämlich mit der Corona-Prämie tarifliche Vergütungszahlungen zu ersetzen. Der Bonus ist als Abmilderung der Corona-Krise gedacht und nicht als Lohn- oder Gehaltsersatz.

"So wälzt eine gewerkschaftseigene Firma Lohn- und Gehaltssteigerungen auf die Allgemeinheit ab", sagt ein Betroffener. Denn auf die Corona-Prämie müssen weder Steuern noch Sozialabgaben bezahlt werden, nicht einmal die Rentenkasse hat etwas davon. Vor allem aber ist die Einmalzahlung nicht tabellenwirksam. Das heißt: Die Einmalzahlung verändert die seit 2019 geltende Gehaltstabelle nicht, sondern friert die darin festgelegten Tarifgruppen ein. Mit der Folge, dass bei Tarifverhandlungen Ende 2023 von den niedrigeren Sätzen des Jahres 2019 ausgegangen wird. Etwaig ausgehandelte Steigerungen fallen niedriger aus, als es der Fall gewesen wäre, wenn man sich jetzt auf tabellenwirksame Gehaltserhöhungen geeinigt hätte.

Jenseits der eigenen Organisation rühmt sich Verdi der erfolgreichen Doppelstrategie

"Keinem Arbeitgeber der Welt hätte Verdi das durchgehen lassen", sagt der Betroffene aus der DGB Rechtsschutz GmbH. Deren Geschäftsführerin Eva Pulfrich verkauft die Lösung jedoch als großzügige Wohltat. "Von Arbeitgeberseite" sei man mit der 1000-Euro-Prämie "deutlich darüber hinausgegangen, was im Rahmen regulärer Entgelt-Tarifverhandlungen für diesen Zeitraum möglich gewesen wäre", schrieb sie in einem Rundbrief an die Beschäftigten. "Insofern handelt es sich um eine zusätzliche Leistung."

Den Vorwurf, dass mit der Corona-Prämie eine reguläre Vergütung ersetzt werde, könne sie nicht nachvollziehen, ergänzt Pulfrich auf Nachfrage. Schließlich habe der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, den Beschäftigten eine steuer- und abgabenfreie Nettoleistung zukommen zu lassen. Und genau diese Möglichkeit nehme man in Anspruch. Im Übrigen: Dass die DGB Rechtsschutz GmbH ihren Leuten andernfalls reguläre Gehaltserhöhungen in diesem Jahr bezahlt hätte, sei "reine Spekulation".

Eine gewagte Aussage, denn dass sich Verdi-Verhandler auf eine Verlängerung des Tarifvertrages zum Nulltarif eingelassen hätten, ist unwahrscheinlich. Dass man ein solches Vorgehen einem nicht-gewerkschaftlichen Arbeitgeber niemals hätte durchgehen lassen, weist ein Verdi-Sprecher von sich. "In der idealen aller tarifpolitischen Welten gelten Einmalzahlungen zwar nur als die zweitbeste Lösung, und natürlich versuchen Gewerkschaften - wo immer möglich - tabellenwirksame Erhöhungen durchzusetzen", gesteht er ein. "Aber in der konkreten Situation ist auf diese Weise tarifpolitischer Handlungsspielraum erhalten geblieben. Gleichzeitig haben die Beschäftigten merklich mehr in der Lohntüte - praktisch sogar brutto gleich netto." Und man müsse schließlich auch anerkennen, dass "der Arbeitgeber" in der Vergangenheit "erheblichen Zusatzaufwand durch Corona, organisatorische und technische Umstellungen und veränderte Refinanzierungsbedingungen" hatte. "Daran kommen wir als Verhandlungspartner nicht vorbei."

So viel Verständnis würden sich andere Arbeitgeber von Verdi auch wünschen. Doch jenseits der eigenen Organisation rühmt sich Verdi der erfolgreichen Doppelstrategie. So sieht der im Herbst geschlossene Tarifvertrag zwischen Bundesländern und Gewerkschaft genau das vor, was bei DGB Rechtsschutz GmbH angeblich nicht ging: "Die einmalige Corona-Sonderzahlung wird zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Entgelt gewährt", hieß es da.

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