Christine Lagarde:Madame Euro

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Christine Lagarde dieses Jahr bei einer Konferenz zum 75. Jahrestag des Abkommens von Bretton Woods. (Foto: Saul Loeb/AFP)

Als Finanzministerin und IWF-Chefin hat die Französin bewiesen, dass sie verändern und vermitteln kann. Kritiker bemängeln jedoch: Die designierte EZB-Chefin ist keine Ökonomin.

Von C. Gammelin, M. Zydra und C. Hulverscheidt, New York/Berlin/Frankfurt

Vergangenes Jahr weilte Christine Lagarde in Frankfurt, als die Sprache auf Yanis Varoufakis kam. Der frühere griechische Finanzminister hatte die EU-Kollegen mit seiner Blockadetaktik monatelang an den Rand des Wahnsinns getrieben und später ein Buch geschrieben, in dem er Details aus den vertraulichen Verhandlungsnächten verrät. Im Vorwort lobt Varoufakis die damalige Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), weil sie ihn auf die Idee für den Titel brachte - "Adults in the Room": Lagarde soll in einer der heillosen Streitrunden vernehmlich geseufzt haben, wo denn, bitteschön, die "Erwachsenen im Raum" seien. Auf ihre Erwähnung angesprochen, lachte die Französin in Frankfurt laut auf und sagte: "Ich vermisse ihn."

Lagarde, das zeigt diese Episode, kann gut mit Menschen und sie begegnet auch solchen Gesprächspartnern mit Wertschätzung, die anderer Meinung sind als sie. Beide Eigenschaften könnten noch wichtig werden, wenn sie im November tatsächlich jenes neue Amt antritt, das ihr die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone jetzt angetragen haben: Die 63-Jährige soll als Nachfolgerin von Mario Draghi Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) werden - ein Job, den auch Bundesbankchef Jens Weidmann gerne übernommen hätte. Wird Lagarde bestätigt, wäre sie die erste Frau und die erste Nicht-Ökonomin an der EZB-Spitze. Anders als ihren drei Vorgängern fehlt ihr zudem die Erfahrung als Chefin einer nationalen Zentralbank.

Dass die einstige Top-Athletin und Synchronschwimmerin nie in einer Volkswirtschaftsvorlesung gesessen, keine geldpolitischen Aufsätze verfasst und Notenbanken bisher nur als Besucherin betreten hat, wird von Puristen aus der akademischen Welt und auf den Finanzmärkten argwöhnisch beäugt. Lagarde studierte Rechtswissenschaften und machte in den USA Karriere als Anwältin, bevor sie während der Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 als französische Finanzministerin von sich reden machte. Erik Nielsen, Chefökonom der Großbank UniCredit, moniert, die Juristin habe sich nie in einer geldpolitischen Debatte engagiert: "Kann sich jemand vorstellen, dass ein früherer Spitzenpolitiker ohne juristische Ausbildung zum Vorsitzenden des obersten Gerichts ernannt wird?" Auch andere Ökonomen zweifeln daran, dass Lagarde die Finanzmärkte bei extremen Krisen mit unkonventionellen Beschlüssen beruhigen kann, so wie es Draghi mehrfach tat. Der Italiener hatte etwa während der Euro-Krise erklärt, die EZB werde alles tun, um die Gemeinschaftswährung zu retten - "was auch immer es ist".

Ihr Werdegang ist für eine Zentralbankerin ungewöhnlich

Kritik an der Nominierung Lagardes kommt aber auch aus der genau entgegengesetzten Ecke, nämlich von konservativen Ökonomen und Publizisten in Deutschland. Sie warnen, die Französin werde die lockere Geldpolitik Draghis mit Sicherheit fortsetzen. Auch wird daran erinnert, dass die damalige Finanzministerin 2010 auf dem ersten Höhepunkt der Euro-Krise ihre Beteiligung an einer absichtlichen Verletzung der EU-Verträge einräumte. "Wir haben alle Regeln gebrochen, weil wir zusammenhalten und die Euro-Zone retten wollten", wurde sie damals zitiert.

Zugleich gibt es für Lagarde aber auch viel Lob: Marcel Fratzscher etwa, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hält sie für eine exzellente Wahl. "Sie versteht sowohl mit Finanzmärkten und Politikern als auch mit Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren", so Fratzscher, der einst selbst für die EZB arbeitete. Auch aus der SPD-Führung verlautete, man werde mit der neuen Notenbankpräsidentin "eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten".

Auch wenn Lagardes Werdegang für einen Zentralbanker ungewöhnlich sein mag - gänzlich ohne Vorbild ist er nicht: Jerome Powell, der Chef der US-Notenbank Fed, ist ebenfalls Jurist. Und selbst die altehrwürdige Bundesbank wurde schon von ehemaligen Politikern oder Ökonomen ohne jede Zentralbank-Erfahrung geführt.

Dass Lagarde nie geldpolitischen Seminaren beigewohnt hat, bedeutet ohnehin nicht, dass sie nichts vom Thema verstünde. Im Gegenteil: Seit mehr als einem Jahrzehnt nimmt sie an den Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs der G 7 und der G 20 teil, sie besucht und empfängt Zentralbanker, hält Reden und gibt Interviews zu geldpolitischen Fragen. Vor allem aber: Sie hat bewiesen, dass sie eine große, einstmals unbeliebte Institution erfolgreich leiten und deren Image verändern kann. "Sie ist eine unglaubliche Führungspersönlichkeit, ein Quell von Energie, Motivation und Charisma", sagt einer, der bis vor Kurzem eng mit ihr zusammengearbeitet hat. Unter ihrer Leitung behandelt der IWF finanzschwache Länder - anders als noch in den Neunzigerjahren - nicht mehr als Bittsteller und verzichtet auf Reformauflagen, die extreme soziale Härten nach sich ziehen würden. Das wird mittlerweile selbst von Entwicklungshilfe-Aktivisten anerkannt.

Lagarde wird auch von Leuten geschätzt, die ihre Meinungen nicht teilen

Zudem öffnete Lagarde den Fonds für Themen wie wirtschaftliche Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit, Ungleichheit, Armut und Umweltschutz, die vor Beginn ihrer Amtszeit im Jahr 2011 kaum eine Rolle spielten. Mitunter ging sie dabei so weit, dass die Kernaufgaben des IWF, also die Förderung von Finanzstabilität, Wachstum und Wohlstand, aus Sicht von Kritikern zu kurz kamen. Im Handelsstreit der USA mit China und Europa etwa meldete sich die Fonds-Chefin zwar zu Wort, ihre Mahnungen verhallten jedoch ungehört.

Zu Lagardes größten Stärken zählt wohl, dass sie es versteht, unterschiedliche Interessen auszugleichen. So gilt sie unter Ministern und Notenbankern als ebenso versierte wie zugleich charmante, verlässliche und standfeste Gesprächspartnerin - selbst wenn man ihre Meinung nicht teilt. Der frühere Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble etwa ließ selbst dann nichts auf die groß gewachsene, stets perfekt gekleidete Grande Dame der Weltfinanzpolitik kommen, als er Griechenland aus der Euro-Zone werfen wollte und mit ihr über Kreuz lag. Dass sie mit ihrer Kompetenz und Eleganz auf einem nach wie vor von Männern dominierten Politikfeld reüssierte, ohne sich zu verbiegen, brachte ihr zugleich sowohl ein Foto auf dem Titel des US-Politikmagazins Time als auch ein großes Porträt in der Modezeitschrift Vogue ein.

Lagarde muss beim IWF mit gleich 189 Anteilseignern klarkommen, vom wohlhabenden Industriestaat bis zum Entwicklungsland. Die Liste der Staats- und Regierungschefs, mit denen sie zu tun hat, reicht von US-Präsident Donald Trump bis zu dessen venezolanischen Kontrahenten Nicolás Maduro - größer könnte die Spanne kaum sein. Ihre Mischung aus Flexibilität und Verbindlichkeit wird ihr auch als EZB-Chefin nutzen, denn die Notenbank muss wegen der nach wie vor unterschiedlichen geldpolitischen Vorlieben in Europa, der Niedrigzinspolitik sowie populistischer Anwürfe von rechts wie links bekanntlich fast täglich eine Art Spagat vollführen.

Vielleicht ist eine kluge Juristin und erfahrene Krisenmanagerin vor diesem Hintergrund die sehr viel bessere Wahl als ein in zahllosen geldpolitischen Theoriedebatten gestählter Ökonom. Das gilt umso mehr, als Lagarde in den Gremien der EZB einen ganzen Apparat voller versierter Experten und Kollegen vorfinden wird - darunter allerdings auch solche, die sich ebenfalls Hoffnungen auf den Top-Job gemacht hatten: Bundesbankchef Weidmann, dessen Amtskollegen François Villeroy de Galhau (Frankreich), Olli Rehn (Finnland) und Klaas Knot (Niederlande) sowie Vorstandsmitglied Benoît Cœuré.

Vielleicht jedoch, wer weiß, eröffnet die Entscheidung der Euro-Regierungschefs Weidmann oder einem der vier anderen auch eine neue Karriereoption, schließlich muss bei einer formellen Ernennung Lagardes auch ihre Nachfolge beim IWF geregelt werden. Der Bundesbankchef selbst hat in der Vergangenheit betont, dass ihm sein derzeitiger Job gefällt und es ihn nicht in die Ferne zieht. Aber ähnlich hatte sich 2018 auch eine geschätzte Kollegin geäußert: Christine Lagarde.

© SZ vom 04.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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