Es soll der mit Abstand größte Börsengang der Welt werden: Voraussichtlich am Donnerstag wird Ant Financial, die Finanzgesellschaft des chinesischen Online-Großhändlers Alibaba, ihr Debüt in Hongkong und Shanghai geben. 37 Milliarden Dollar sollen eingesammelt werden, deutlich mehr als beim Handelsstart des Ölkonzerns Saudi Aramco im vergangenen Jahr, der 29,4 Milliarden Dollar einbrachte. Die Aktie ist mehrfach überzeichnet, in Hongkong gibt es bereits einen Graumarkt, auf dem die Papiere unter der Hand mit Aufschlag gehandelt werden.
Am Montagabend jedoch verschickte die chinesische Zentralbank gemeinsam mit drei weiteren Finanzaufsichtsbehörden eine dürre Nachricht, in der sie bekanntgab, dass Alibaba-Gründer Jack Ma sowie zwei Ant-Financial-Führungskräfte aufgefordert worden seien, Fragen zu beantworten. Es gehe um "regulatorische Interviews", heißt es in der Stellungnahme. Ein höchst ungewöhnlicher Zeitpunkt. Ist man in Peking verärgert über Ma?
"Noch heute arbeiten Banken mit einer Pfandhausmentalität, benötigen Sicherheiten und Garantien, sind wie Pfandhäuser", hatte Ma Ende Oktober in Shanghai gesagt und damit sehr treffend umschrieben, warum Ant Financial so erfolgreich in China ist.
Die Behörden geben den chinesischen Instituten monatlich exakt vor, wie viel sie verleihen dürfen. Um keinen Ärger zu bekommen und um die Verwaltungskosten so gering wie möglich zu halten, vergeben viele Banken ihre Kredite daher am liebsten an Staatskonzerne, diese nehmen viel Geld auf einmal ab, und notfalls haftet ohnehin der Staat. Der Mittelstand, das eigentliche Rückgrat der chinesischen Wirtschaft, erhält kaum Kredite und muss sich teilweise bei obskuren Schattenbanken refinanzieren, die deutlich mehr Zinsen verlangen.
Als Bankkunde kommt man sich häufig wie bei einem Behördentermin vor. Man muss eine Wartenummer ziehen und etliche Formulare ausfüllen. Ant Financial ist das Gegenteil. Eine Art Schweizer Taschenmesser im Finanzbereich: Ob Zahlungsabwicklung, Konsumentenkredite, Darlehen für Unternehmen oder Vermögensverwaltung - überall, wo die Banken versagen, ist Ant Financial innerhalb weniger Jahre erfolgreich geworden.
Begonnen hat alles 2004, kurz nachdem Jack Ma die Website Taobao ins Leben gerufen hatte, also Chinas Ebay. Im Gegensatz zum amerikanischen Auktionshaus passte Ma Taobao allerdings an die Bedürfnisse der chinesischen Nutzer an und führte ein eigenes Online-Bezahlsystem ein: Alipay. Wer seinerzeit bei Ebay handelte, musste vertrauen können - darauf, dass der Verkäufer die ersteigerte Ware schickt und der Käufer wirklich zahlt. Dieses Vertrauen haben viele Chinesen nicht, zu oft wurden sie enttäuscht. Bei Alipay wurde das eingezahlte Geld erst dann weitergereicht, wenn die Ware tatsächlich beim Kunden angekommen ist; so lange blieb das Geld bei Alibaba. Eine Art Treuhandkonto also.
Inzwischen ist Alipay in China kaum noch wegzudenken: Überall in der Volksrepublik kann man mit dem Dienst zahlen. Dazu scannt man mit dem Smartphone einen QR-Code ein, und das Geld wird transferiert, im Supermarkt genauso wie an der Garküche. Selbst Bettler haben oft einen Code auf Papier dabei. Im vergangenen Jahr wurden Zahlungen in Höhe von 110 Billionen Yuan, das sind etwa 14,1 Billionen Euro, abgewickelt, fast 25-mal mehr als bei Paypal, der größten Online-Zahlungsplattform außerhalb Chinas.
2011 gliederte Alibaba Alipay schließlich aus. Der Grund war recht pragmatisch: Die Behörden hatten eine chinesische Banklizenz verlangt. Für Alibaba war das damals ein aussichtsloses Unterfangen, da der Konzern mit Softbank (Japan) und Yahoo (USA) zwei große ausländische Ankeraktionäre hatte. Erst nannte man sich Alibaba e-Commerce, dann Ant Small and Micro Financial Services und schließlich nur noch Ant Group, die längst weit mehr ist als ein Zahlungsabwickler.
Ant Financial ist der wichtigste Vertriebskanal für Finanzprodukte in China und vergibt Konsumentenkredite, die man im Nu auf dem Smartphone buchen kann. Auch für kleine - und mittelständische Unternehmen vermittelt Ant Financial Darlehen. Das ist attraktiv für all jene Geschäftsleute, die von den Staatsbanken kein Geld bekommen. Via Ant Financial werden inzwischen fünf Prozent aller Kredite für den Mittelstand vergeben. Bei den Konsumentenkrediten liegt der Marktanteil sogar bei 15 Prozent.
Im ersten Halbjahr erwirtschaftete Ant Financial einen Betriebsgewinn von umgerechnet rund drei Milliarden Euro, nach gut 500 Millionen im ersten Halbjahr 2019. Der Umsatz stieg um 38 Prozent auf neun Milliarden Euro. Derzeit hält Alibaba etwa ein Drittel der Anteile von Ant Financial. Seit der letzten Finanzierungsrunde 2018 sind zudem namhafte Investoren wie der Staatsfonds Temasek aus Singapur und der Finanzinvestor Warburg Pincus beteiligt. Neben der Hongkonger Börse strebt Ant Financial auch eine Notierung in Shanghai an. Dort soll das Unternehmen im sogenannten Star Market aufgenommen werden, den es erst seit dem vergangenen Sommer gibt und der speziell für wachstumsstarke chinesische Unternehmen nach dem Vorbild der amerikanischen Nasdaq geschaffen wurde.
Der Mutterkonzern Alibaba hatte die New Yorker Technologiebörse 2014 für seine eigene Erstplatzierung gewählt. Inzwischen aber haben sich die Beziehungen zwischen der Volksrepublik und den Vereinigten Staaten dramatisch verschlechtert, die Drohungen von US-Präsident Donald Trump gegen chinesische Unternehmen in den USA dürften für Ant Financial eine Rolle bei der Wahl des Handelsplatzes gespielt haben. Und Erfahrung mit Hongkong hat schließlich auch Alibaba: Im vergangenen Jahr erfolgte das Zweitlisting in der ehemaligen britischen Kronkolonie.
Ansonsten aber ist das Geschäft von Ant Financial noch sehr auf China konzentriert. Hier und dort kann man zwar mit Alipay auch im Ausland bezahlen, dieses Angebot richtet sich aber vor allem an chinesische Touristen. Das Problem von Ant Financial weltweit Fuß zu fassen, sind die strengen chinesischen Kapitalverkehrskontrollen. Laut Gesetz darf jeder Bürger jährlich umgerechnet nur 50 000 Dollar ein oder ausführen. Das sind die Regeln jenes Staates, die nun Jack Ma und das Ant-Financial-Management kurz vor dem Börsengang "regulatorischen Interviews" unterziehen.