China:Wohlstand oder Absturz

China: Einkaufsstraße in Peking: Die Bürger konsumieren mehr, das hilft der Volkswirtschaft. Aber reicht das?

Einkaufsstraße in Peking: Die Bürger konsumieren mehr, das hilft der Volkswirtschaft. Aber reicht das?

(Foto: Ng Han Guan/AP)

Verhindert China eine harte Landung seiner Wirtschaft? Die jüngsten Zahlen sprechen dafür. Doch einig sind sich die Experten nicht. Immerhin vermeldete die Nationale Statistikbehörde für das dritte Quartal ein Wachstum von 6,9 Prozent.

Von Marcel Grzanna, Shanghai

Li Ka-shing aus Hongkong zählt seit Jahrzehnten zu den reichsten Geschäftsleuten Asiens. Er bewies stets das richtige Näschen dafür, wo sein Geld gut aufgehoben ist. Und noch wichtiger: Wo es nicht gut aufgehoben ist. Wenn Li in Shanghai Immobilien für 20 Milliarden Yuan, etwa 2,8 Milliarden Euro zum Kauf anbietet, dann schrillen bei anderen Investoren die Alarmglocken. Sein designierter Rückzug gilt vielen als Hinweis darauf, dass es schlecht steht um die chinesische Konjunktur.

Am Montag vermeldete die Nationale Statistikbehörde für das dritte Quartal eine Wachstumsquote von 6,9 Prozent Wachstum. Das liegt unter dem Ziel, das Peking für 2015 ausgegeben hat. Doch angesichts eines turbulenten Sommers mit Börsencrash und Einbruch der Exporte hätte es schlimmer kommen können, finden manche Experten. Die seit Jahren stetige Verlangsamung der Konjunktur sei die logische Konsequenz von Liberalisierung und Neuordnung eines ausrangierten Wachstumsmodells, sagt die allein regierende Kommunistische Partei.

Doch Ökonomen fragen sich, ob den Chinesen ein kontrollierter Übergang von einer Konjunktur, die von hohen Staatsausgaben und Exporten getragenen wird, zu einem innovativen, konsumgetriebenen Wachstumsmodell gelingt. Oder erleidet das Modell des Chinas im 21. Jahrhunderts einen so drastischen Rückschlag, dass es sich über Jahre hinaus nicht erholt? Die Gelehrten streiten sich. Jedem Argument der Skeptiker halten die Optimisten eines dagegen.

Pro

Der Absturz der Börse hat Kleinanleger Milliarden gekostet, doch die Konsumlust der chinesischen Mittelklasse setzt sich nahtlos fort. In den Restaurants der Szeneviertel sind Reservierungen empfohlen. Fassbier fließt auch nach der Börsenpleite in Strömen - zu Literpreisen ab 15 Euro aufwärts. Auch das Einkaufen macht den Chinesen weiter Spaß. Der Einzelhandel legte im September um elf Prozent zu. Der E-Commerce boomt wie nie zuvor. "Es wird noch einige Jahre dauern, aber zweifellos wird die Konsumlust der Haushalte die Staatsausgaben als tragende Säule im Wirtschaftsmodell ablösen", prophezeit Chen Jiahe Chefanalyst von Cinda Securities aus Shanghai.

Chinas IT-Konzerne machen aus der früheren Werkbank das digitale Handels- und Dienstleistungszentrum der Welt. Die Menschen lieben technische Neuerungen. Alles, was das Leben bequemer macht, ist in der Privatsphäre willkommen. Datenschutz spielt für Konsumenten, die in einem autokratischen Regierungssystem groß geworden sind, keine Rolle. Niemand empört sich, wenn Adressen, Kontostände oder Krankengeschichten von Dritten ausgetauscht werden. Das Internet der Dinge blüht, also die selbstständige Kommunikation von Alltagselektronik mit dem Internet. Eine Studie der Berater von Accenture berechnet sein Volumen auf 1,8 Billionen US-Dollar für das Jahr 2030. Das allein bringt der Wachstumsquote nach heutigem Stand 0,3 Prozent.

Es droht keine Schuldenkrise! Der ausstehenden Summe stehen Sach- und Kapitalwerte gegenüber, die sich auf das Zehnfache des Bruttoinlandsprodukt belaufen, angelegt vor allem in Immobilien und Sparbüchern. Selbst wenn die Wohnungspreise die Hälfte an Wert verlieren, ist immer noch genug übrig, um die Schulden zu begleichen. Die geplatzte Blase an der Börse ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Anlagevolumen am Aktienmarkt beträgt gerade einmal zwei Prozent des Gesamtvermögens.

Contra

Kein Mensch braucht mehr billige Turnschuhe aus China. Jahrelang überschwemmten chinesische Exporte die ganze Welt. Inzwischen bleiben viele Hersteller auf ihren Produkten sitzen, weil das Geld in den USA und in Europa lieber anderweitig ausgegeben wird. Jetzt stehen Hunderttausende chinesische Exportfirmen vor dem Problem, dass sie keine Ahnung haben, was sie ihren Kunden sonst noch Gutes tun können. Auch weil sie technologisch dem globalen Standard hinterher hinken. Wenn sich das nicht ändert, fehlt es an Profiten, Arbeitsplätzen und Perspektiven.

Von Chinas Währungsreserven flossen 100 Milliarden Dollar an die Börse, um die Kurse zu stützen. Peking verbrennt riesige Summen, um noch mehr zu bauen und Wachstum zu schaffen. Mizuho Securities Asia in Hong Kong erwartet in den nächsten drei Jahren Staatsausgaben bis 1,6 Billionen Dollar. Das käme dem Stimulus nach Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 gleich. Geschenkt gibt es aber auch in China nichts. Die Gesamtverschuldung liegt bei 282 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und schnellt weiter oben. Chinesische Banken berichteten zuletzt von weniger Profiten, weil die Zahl der faulen Kredite stetig wächst. Eine Schuldenkrise ist unausweichlich.

Nur wenn Chinas Wirtschaft liberaler wird, bleibt die Aussicht auf wachsenden Wohlstand bestehen. Doch der Reformprozess zieht sich. "Es geht einfach zu langsam", klagt der Präsident der EU-Handelskammer Jörg Wuttke. Der renommierte Wirtschaftskolumnist Du Jiangou glaubt zu wissen, woran das liegt. "Innerhalb der Regierung gibt es viele unterschiedliche Stimmen mit unterschiedlichen Meinungen. Manche Kader bremsen die Konjunktur absichtlich, um in die eigene Tasche zu wirtschaften", sagt der Ökonom. Hinzu kommen laute Zweifel an der Glaubwürdigkeit der chinesischen Wirtschaftsdaten, die manche Beobachter aus politischen Gründen als geschönt bewerten. Weshalb, so fragen sich Analysten von Oxford Economics, bleibt beispielsweise der Servicesektor stabil, wenn die Blase an der Börse platzt?

Und jetzt?

Chinas Wirtschaft wird nicht von heute auf morgen zusammenbrechen. Doch der Druck auf Peking nimmt zu. Zumal falsche Daten den Ernst der Lage verschleiern könnten. "Die niedrig hängenden Trauben sind bereits gepflückt", schrieb die taiwanische Tageszeitung The China Post am Dienstag. China müsse sich verändern, wenn es seinen Weg in den Wohlstand fortsetzen will. In erster Linie politisch.

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