China-Valley:Unter Aufsicht

Christoph Giesen

An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Christoph Giesen (Peking), Marc Beise (München), Karoline Meta Beisel (Brüssel), Helmut Martin-Jung (München) und Jürgen Schmieder (Los Angeles) im Wechsel. Illustration: Bernd Schifferdecker

Die Start-up-Szene Chinas boomt wie keine andere. Aus kleinen Firmen entwickeln sich in kürzester Zeit milliarden­schwere Konzerne. Frei agieren können sie nicht. Es ist die Regierung in Peking, die bestimmt, wo es langgeht.

Von Christoph Giesen

Jetzt fliegt auch Angela Merkel hin. Am Freitagmorgen wird die Regierungsmaschine in Peking abheben und dreieinhalb Stunden später in Shenzhen landen, jener Stadt, die vor wenigen Dekaden nicht mehr als eine Ansammlung von Fischerdörfern an der Grenze zu Hongkong war und heute eine Millionenmetropole ist, in der längst mehr Menschen leben als in der ehemaligen Kronkolonie. Ein wenig Start-up gucken will die Kanzlerin hier, die Digitalisierung chinesischer Prägung studieren. Das neue Selbstbewusstsein der Volksrepublik verstehen.

Die meisten Taxis in Shenzhen fahren elektrisch und sind mit Kameras ausgerüstet, die alles aufzeichnen. Gesichtserkennung, künstliche Intelligenz, nirgendwo sonst ist man so weit wie in Shenzhen. Ja, selbst mancher Bettler hier bittet inzwischen um digitale Almosen. Mobil bezahlt mit dem Smartphone. Shenzhen, der neue Konkurrent des Silicon Valley?

Tausende junge Unternehmen haben sich in den vergangenen Jahren in der Stadt angesiedelt, Shenzhen boomt. Auch in Peking und Shanghai werden jeden Tag etliche neue Firmen gegründet. Geld ist genug da. Finanziell ist Chinas Start-up-Landschaft mit Kalifornien auf Augenhöhe, und dennoch gibt es einen gewaltigen Unterschied: Der Einfluss der chinesischen Führung ist enorm. Ein Handstreich der Regierung in Peking, und Milliardenkonzerne stehen vor dem Ruin. Die Folge: Eine Anordnung oder ein kritischer Artikel in der Volkszeitung, und Chinas Digitalkonzerne kuschen.

Das jüngste Beispiel: Toutiao. Das Unternehmen gilt als eines der vielversprechendsten Start-ups des Landes. Toutiao ist ein sogenannter Nachrichtenaggregator. Übersetzt heißt der Dienst "Schlagzeile". Je nach Vorlieben, Themen, Formaten, Autoren oder Titeln schlägt einem die App Texte und Videos vor. Millionen Chinesen lesen nur noch über Toutiao. 73 Minuten verbringen die Nutzer im Schnitt bei Toutiao, die meisten von ihnen sind jünger als 30 Jahre.

Zum Einsatz kommt künstliche Intelligenz. Welche Artikel man liest oder welche Videos man sich anschaut, merkt sich das System, genauso, wie lange man in einem Text verweilt, wo man ihn abbricht, wo man weiterscrollt, an welchem Ort man sich gerade befindet, zu welcher Zeit man liest, aus alldem zieht der Algorithmus Schlüsse. Am Anfang kann noch ein Kochrezept direkt auf eine Jubel-Eloge der amtlichen Nachrichtenagentur über den allmächtigen Staats- und Parteichef Xi Jinping folgen. Nach ein paar Runden ist die Auswahl deutlich akkurater.

Die Texte und Videos stammten aus über 1,1 Millionen Quellen. Das sind Zeitungen genauso wie die Websites von Behörden und Unternehmen, Blogs oder Filmschnipsel. Jeden Tag kommen eine halbe Million neue Artikel oder Clips hinzu. Im Unterschied etwa zu Facebook verzichtet Toutiao auf Empfehlungen von Freunden aus dem eigenen Netzwerk. Nicht was der Nachbar oder Arbeitskollege postet, wird einem vorgesetzt, der Computer entscheidet, und das verblüffend zielsicher.

Inhalte, die auf Missfallen bei Beamten stoßen, müssen gelöscht werden

Bewertet wird Toutiao inzwischen mit 20 Milliarden Dollar, und das Unternehmen expandiert. Immer mehr Apps kommen hinzu. Bis vor sechs Monaten der erste Rückschlag erfolgte. Ende vergangenen Jahres schalteten die Behörden Toutiao für 24 Stunden ab. Einfach so. Der Vorwurf: "Pornografische und vulgäre Inhalte" seien verbreitet worden. Als Maßnahme stellte Toutiao 2000 Zensoren ein. Eine Nachrichtenmaschine zensierte sich selbst. Seit April sind einige Toutiao-Dienste offline. Eine Witze-App gefiel den Beamten offenbar gar nicht. Man werde die "sozialistischen Werte" achten und verbreiten, meldete sich Gründer Zhang Yiming kleinlaut zu Wort und stellte kurzerhand 4000 neue Löschfachkräfte ein. Für Toutiao ist es ein Kampf ums Überleben geworden.

Genauso wie für die Großen der Branche: die Suchmaschine Baidu, den Onlinehändler Alibaba und den Wechat-Konzern Tencent aus Shenzhen. Auf dem Papier Milliardenkonzerne, die vor Kraft strotzen. Sie alle beschäftigen Tausende Zensoren, die jegliche Kritik und Diskussion sofort im Keim ersticken. Das größte stehende Heer hat wahrscheinlich Tencent unter Vertrag. Genaue Zahlen gibt es nicht. Ihre Aufgabe: Sie sollen Wechat beschützen, jenen Dienst, der Tencent-Gründer Ma Huateng zu einem der reichsten Männer Chinas gemacht hat. Sein Unternehmen ist an der Börse inzwischen mehr als 500 Milliarden Dollar wert.

2011 kam Wechat in China auf den Markt. Das halbe Land hat inzwischen diese App installiert. Statt nach der Telefonnummer wird man heute nach seinem Wechat-Namen gefragt. Man kann mit dem Dienst überall bezahlen, selbst in den schmutzigsten Garküchen hängt ein QR-Code, man scannt ihn mit dem Smartphone, und schon fließt das Geld. Wechat ist eine Art Schweizer Taschenmesser, vollgestopft mit Hunderten Funktionen. Chatten kann man damit natürlich auch. Aber immer im Rahmen, sonst wird gelöscht. "Fake News, die sich in den sozialen Medien in den Vereinigten Staaten verbreiten, haben eine Rolle bei Trumps Sieg gespielt", so formuliert Gründer Ma es lieber. "Tencent war immer streng darin, gegen Fake News vorzugehen, und wir sehen es als sehr notwendig an." Aber auch auf andere Bedenken der Regierung reagiert Tencent prompt. Als ein Kommentar in einer staatlichen Zeitung Tencents beliebtes Spiel "Honor of Kings" als "Gift" und "Drogen" für Jugendliche brandmarkte, beschränkte das Unternehmen die Spielzeit sofort auf zwei Stunden und verbot Kindern, sich nach 21 Uhr einzuloggen.

Peking befiehlt, Shenzhen und die Start-ups gehorchen.

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