China Valley:Kopf oder Zahl

Christoph Giesen

An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Christoph Giesen (Peking), Marc Beise (München), Karoline Meta Beisel (Brüssel), Helmut Martin-Jung (München) und Jürgen Schmieder (Los Angeles) im Wechsel. Illustration: Bernd Schifferdecker

In Chinas Start-ups wird oft bis zum Umfallen gearbeitet, und manchmal auch darüber hinaus. Seit 1995 gilt zwar offiziell das zweitägige Wochenende, doch hält sich niemand daran - weil das erwartet wird. Dagegen formiert sich nun Protest.

Von Christoph Giesen

Sie sind es gewohnt, in Zahlen und Codes zu denken, die Abertausenden Programmierer, die für Chinas Start-ups Tag für Tag neue Algorithmen erschaffen, Apps bauen und Datenbanken aufsetzen. Da ist es beinahe folgerichtig, dass sie auch ihr eigenes Elend nummerieren. "996", das ist die Zahlenkombination, über die seit Wochen in China gestritten wird, online genauso wie beim hastigen Mittagessen mit den Kollegen. Nur nicht beim Feierabendbier - dazu haben die meisten schlicht keine Zeit. 996, das steht für neun bis neun Uhr und sechs Tage die Woche - 72 Stunden Arbeit. Das ist für viele Mitarbeiter der chinesischen Technologiefirmen die Schlagzahl. Und für manche ist sie sogar noch höher: In Shenzhen, Peking und Shanghai, den Start-up-Zentren der Volksrepublik, müsste man längst von "9106" sprechen. Wer gegen 22 Uhr versucht, ein Taxi zu bestellen, hat meist schlechte Karten, viele Programmierer kommen dann aus den Büros und machen sich auf den Heimweg. Auch der freie Tag, am Sonntag, wird oft zum Arbeiten genutzt.

Home-Office nennen sie das euphemistisch. Begonnen hatte die Debatte im Januar, als der Gründer eines E-Commerce-Unternehmens aus Hangzhou unter Pseudonym einen Blogbeitrag veröffentlichte: "Wenn Sie keinen Druck verspüren in Ihrem Unternehmen, sollten Sie gehen, da die Firma bald bankrott ist. Und wenn Sie in Ihrer Abteilung keinen Druck verspüren, sollten Sie sich versetzen lassen, bevor diese geschlossen wird", schrieb er. Seine Personaler informierten jeden Bewerber darüber, dass die Arbeit "mit enormen Druck verbunden ist, da viele die langen Arbeitszeiten als Gewohnheit betrachten und sich Arbeit und Freizeit nicht mehr wirklich voneinander trennen lassen".

Gegen dieses 996-Plädoyer formierte sich Protest. Im März startete eine Gruppe von Entwicklern im Netz eine Bewegung unter dem Schlagwort "996.ICU". ICU, das steht für "Intensive Care Unit", weil überarbeitete Beschäftigte auf der Intensivstation des Krankenhauses landen können. Übertrieben ist das nicht, es gab bereits Todesfälle, Angestellte, die vor Erschöpfung am Arbeitsplatz gestorben sind. Rasch stellte die Gruppe eine Liste mit all jenen Firmen zusammen, die gegen die Arbeitszeitgesetze verstoßen und von ihren Mitarbeitern 996-Arbeit verlangen. Fast alle großen Techunternehmen sind verzeichnet. Der Einzelhändler Alibaba genauso wie der Netzwerkausrüster Huawei, der Suchmaschinengigant Baidu, der Handyfabrikant Xiaomi oder der Wechat-Konzern Tencent. Und dann? Dann setzte das große Relativieren ein.

Als einer der ersten meldete sich der reichste Mann des Landes, Alibaba-Gründer Jack Ma, zu Wort. Auf etwa 40 Milliarden Dollar wird sein Vermögen taxiert. 996 nannte er einen großen Segen. "Wer bei Alibaba anfängt, sollte bereit sein, zwölf Stunden am Tag zu arbeiten", ließ er ausrichten. "Wir brauchen diejenigen nicht, die bequem acht Stunden arbeiten." Innerhalb der zwölf Stunden pro Tag müsse auch Zeit für Reflexion und persönliche Weiterbildung sein, betonte er. "Bei 996 geht es nicht allein darum, Überstunden zu machen", schrieb er im Kurznachrichtendienst Weibo. "Es geht nicht um mühsame körperliche Arbeit, und es hat nichts mit Ausbeutung zu tun." Unterstützung erhielt Ma von seinem größten Wettbewerber, Richard Liu, dem Chef und Gründer des Online-Händlers JD.com. Dieser erklärte all jene, die sich dem 996-Diktat nicht unterwerfen, zu "Faulenzern".

Auf dem Papier gilt in China die 40-Stunden-Woche. Bis zu 36 Überstunden sind in Ausnahmefällen pro Woche erlaubt, müssen aber gesondert bezahlt werden. In der Realität macht das niemand. Lange Arbeitszeiten galten in China als normal. Erst 1995 wurde überhaupt das zweitägige Wochenende eingeführt. 996 ist für viele die Rückkehr zur Gewohnheit. Schon in der Schule bekommen das die Kleinsten mit. Unterricht bis in den Nachmittag, dann mehrere Stunden Hausaufgaben und am Wochenende zum freiwilligen Nachhilfekurs, um ja nicht den Anschluss zu verpassen. Zehnjährige sind oft ausgelastet wie Manager.

Die staatliche Zensur hält sich bemerkenswert zurück. In Leitartikeln werben die staatlichen Blätter sogar für Ruhepausen und Freizeit. Blockiert wird die 996.ICU-Website dennoch, nicht vom Staat, sondern von Unternehmen wie Tencent oder Xiaomi. Wer von firmeneigenen Rechnern die Seite aufruft, erhält eine Fehlermeldung.

Stattdessen werden Heldengeschichten verbreitet. Der Aufstieg von Huawei zum Beispiel. In den Achtzigerjahren von einem Ex-Soldaten der Volksbefreiungsarmee mit wenigen Tausend Yuan gegründet, setzt das Unternehmen heute mehr um als Siemens oder BMW. Bei Huawei sprechen sie ehrfürchtig von der sogenannten Wolfskultur. Die Manager stehen im ständigen Wettstreit. Jeder beobachtet jeden, immer wachsam, jeder Fehler kann den Aufstieg beenden. Echte Freundschaften gibt es nicht, allenfalls Respekt voreinander - wie in einem Rudel Wölfe. Huawei ist so zu einem Weltkonzern geworden, der sich nun anschickt, überall auf der Welt 5 G, das Internet der Zukunft, zu verlegen.

Diese Wolfsbewunderung teilte übrigens auch jener Unternehmer, der mit seinem Blogbeitrag die Debatte mitausgelöst hatte. Huawei-Chef Ren Zhengfei, notierte er, habe einmal zu einem Mitarbeiter, der aus familiären Gründen gekündigt hatte, gesagt: "Warum kündigen? Sie können sich doch scheiden lassen." Dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht, und sich das Glück nicht einzig auf dem Bankkonto zählen lässt, verstehen viele der Gründer in China nicht.

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