Süddeutsche Zeitung

China Valley:Die Stadt aus dem Nichts

Was vor 40 Jahren noch Ackerland war, ist heute das wichtigste Technikzentrum der Volksrepublik. Shenzhen ist die Metropole der Tüftler und der Wanderarbeiter. Nirgendwo auf der Welt bekommt man schneller einen Prototypen gebaut. Das zieht Start-ups an.

Von Christoph Giesen

Vor 40 Jahren war hier nichts, bis auf ein paar Dörfer, saftige Wiesen, Tiere, die grasten. Reisfelder soweit das Auge blickte. Ganze acht Kilometer geteerte Straße und genau zwei Ingenieure soll es damals gegeben haben. Ansonsten lebten an der Grenze zu Hongkong vor allem Bauern und Fischer. In den Fabriken der New Territories in der damaligen Kronkolonie wurde indessen gewerkelt und geschweißt. Die Waren der Welt, sie kamen aus Hongkong. Und heute? Da hat sich alles umgekehrt. Hongkong gehört wieder zu China und ist zu einer Bankenstadt mit angeschlossenem Hafen geworden, die von chinesischen Touristen lebt. Aus den Fischerdörfern an der Grenze aber ist das wichtigste Technikzentrum des Landes geworden: Shenzhen, eine Metropole mit mehr als zehn Millionen Einwohnern.

Es war 1978, wenige Jahre nach der Kulturrevolution, da entsandte die Parteiführung Erkundungstrupps ins Ausland. Im April fuhr eine Delegation nach Hongkong. Auch nach Japan oder Europa brachen Abordnungen auf. Dort besuchten sie Unternehmen und schauten sich Werke an, denn China sollte wieder an die Weltwirtschaft gekoppelt werden.

Und der Ort, an dem das begann, war Shenzhen. 1980 erklärte die Regierung die Region zur Sonderverwaltungszone. Die ersten Hochhäuser der Volksrepublik wurden hier errichtet. Ein echtes Zentrum fehlt, es ist eine Aneinanderreihung von Wohn- und Industriegebieten. Kein Gebäude ist älter als 40 Jahre - und auch die Bevölkerung ist so jung wie nirgendwo sonst in China. Fast alle sind zugereist. Der kantonesische Dialekt, der eigentlich in der Provinz gesprochen wird, beherrscht hier kaum jemand. Und das ist vielleicht auch gut so.

Der elitäre Dünkel vieler Hauptstädter in Peking oder die Arroganz Shanghais haben in Shenzhen keinen Platz. Wer hierher kommt, hängt sich rein und sucht das Glück. Fast 17 Prozent der Start-ups werden in der Provinz Guangdong registriert - die meisten davon in Shenzhen. Gerade Firmen, die nicht nur programmieren, sondern auch Hardware herstellen, siedeln sich in der Stadt an. Alle wichtigen Konzerne der Welt fertigen in der Umgebung. Wer eine Idee hat, kann sie sofort realisieren, einen Prototypen bekommt ihn hier in wenigen Wochen gebaut. In Europa dauert das oft Monate. Auch danach eine Fabrik hochziehen, Arbeiter einstellen, das geht in Shenzhen viel schneller als woanders. Die Arbeiter sind schließlich alle da.

Sie stehen bei Foxconn am Band und fertigen iPhones, oder sie sind bei Huawei angestellt. Beides Unternehmen mit Tausenden von Mitarbeitern, die vor gar nicht so langer Zeit noch Start-ups waren. Huawei wurde in den Achtzigerjahren in Shenzhen gegründet, heute ist er Chinas führender Smartphonehersteller und zum wichtigsten Ausrüster von Mobilfunkmasten in Europa aufgestiegen.

Oder BYD. Das steht für Build Your Dreams. 1995 gründeten zwei Cousins nach dem Studium das Unternehmen. Sie fertigten Batterien für Handys, nach fünf Jahren war Motorola ihr Kunde, später dann auch Nokia. In den Hochzeiten des finnischen Konzerns stammte fast ein Viertel der Akkus aus den Werken von BYD. Doch während Nokia in der Versenkung verschwand, ist BYDs womöglich Zukunft gerade erst angebrochen. Was als kaum mehr als eine Hinterhoffertigung anfing, ist zu einem der wichtigsten Spieler im Rennen um die Elektromobilität geworden. 100 000 Batteriezellen für Busse und Autos fertigt BYD im Werk in Shenzhen täglich und das voll automatisiert. 48 Arbeiter pro Schicht überwachen nur noch die Produktion. In diesem Jahr eröffnet der Konzern eine weitere Batteriefabrik.

Das jüngste Erfolgs-Start-up aus Shenzhen ist die Drohnenfirma DJI

Bislang verbaut BYD die Akkus vor allem in eigenen Fahrzeugen, mit anderen Herstellern ist das Unternehmen aber im Gespräch. Fast kein Wunder, dass Investorenlegende Warren Buffett zehn Prozent am Unternehmen hält. 2008 kaufte er sich ein. Der beste Abnehmer ist die Stadtregierung. Inzwischen fahren alle 16 000 Busse in Shenzhen elektrisch. Nur 200 Diesel-Fahrzeuge stehen noch bereit, als eiserne Reserve. Ende dieses Jahres sind dann die Taxis dran. 60 Prozent sind schon umgerüstet.

Das jüngste Erfolgs-Start-up aus Shenzhen, das ist der Drohnenhersteller DJI. Gegründet 2006 von drei Kommilitonen, kontrolliert DJI inzwischen 70 Prozent des Weltmarktes. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt: Fernsehjournalisten filmen mit Drohnen, Bauern setzen sie zum Sprühen von Pestiziden ein. Bei Waldbränden helfen sie, der Feuerwehr das Ausmaß zu bestimmen. Und Versandhändler experimentieren mit Flugobjekten, die die Pakete zielgenau ausfliegen. Bewertet wird DJI mit gut zehn Milliarden Dollar.

Ausgerechnet das wichtigste Unternehmen der Stadt ist aber keine Hardware-Schmiede, sondern der Onlinekonzern Tencent. 1998 gegründet, ist die Firma an der Börse mehr als 500 Milliarden Dollar wert. Vor allem wegen Wechat. Eine Milliarde Kunden nutzen den Dienst. Mit dieser App kann man telefonieren, chatten, aber auch im Restaurant die Rechnung begleichen. China ohne Wechat, das ist nicht mehr vorstellbar. Läuft man nachts an der Tencent-Zentrale vorbei, brennt in vielen den Büros noch Licht. So ist das in Shenzhen. Die Hauptverwaltung besteht aus zwei Türmen, jeder 250 Meter hoch. Verbunden sind sie über drei Glasbrücken, die unterschiedliche Namen tragen. Sie heißen "Wissen", "Kultur" und "Gesundheit". In der Gesundheitsbrücke sind ein Basketballplatz und eine Laufbahn integriert. Man kann frisch gepresste Säfte trinken oder sich im Fitnesscenter verausgaben. Und dann gleich weitermachen in Shenzhen, dieser fleißigen Stadt der Tüftler und Wanderarbeiter.

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Quelle:
SZ vom 28.03.2018
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