Süddeutsche Zeitung

China:Unglaubliche Erholung

Peking veröffentlicht überraschend positive Konjunkturdaten und sorgt sich vor allem um die Weltwirtschaft. Aber wie verlässlich sind die Zahlen?

Von Christoph Giesen, Peking

Chinas Wirtschaft ist nach einem Rekordrückgang infolge der Corona-Pandemie offenbar auf dem Weg der Erholung. Wie das Pekinger Statistikamt am Donnerstag mitteilte, legte die chinesische Wirtschaft im zweiten Quartal um 3,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu. Damit fiel die Erholung stärker aus, als Fachleute es erwartet hatten. In einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters hatten Analysten ein Wachstum von 2,5 Prozent prognostiziert. Gemessen am Vorquartal stieg die Wirtschaftsleistung von April bis Juni um 11,5 Prozent.

In den ersten drei Monaten des Jahres hatte die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt wegen der Pandemie einen historischen Einbruch von 6,8 Prozent erlebt. Zum ersten Mal seit Beginn der offiziellen Aufzeichnungen im Jahr 1992 hatte China im ersten Quartal ein negatives Wirtschaftswachstum verzeichnet. Unterm Strich ergibt sich damit ein Minus von 1,6 Prozent im ersten Halbjahr, die Chancen stehen nun allerdings recht gut, dass die Volksrepublik 2020 einer Rezession entgeht. 1976, im Jahr, als Staatsgründer Mao Zedong starb und die Kulturrevolution beendet wurde, war das zum bisher letzten mal geschehen.

Die Wirtschaft zeige einen "stetigen Erholungstrend", sagte Liu Aihua, Sprecherin des Pekinger Statistikbüros am Donnerstag. "Gleichzeitig müssen wir auch sehen, dass einige Indikatoren immer noch rückläufig sind", warnte sie. Zudem breite sich die Pandemie global weiter aus. Es werde deshalb mit "enormen Auswirkungen" auf die Weltwirtschaft gerechnet.

Als Grund für die schnelle Erholung führen die Statistiker die rasche Reaktion der Regierung in Peking an. Diese hatte in der Krise eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, darunter Steuererleichterungen, Senkungen der Kreditzinsen sowie der Mindestreserveanforderungen der Banken, um die wirtschaftlichen Folgen der Virusbekämpfung abzufedern.

Doch wie zuverlässig sind die chinesischen Statistiken? Bekannt ist, dass selbst der Regierungschef dem Zahlenwerk nicht umfänglich vertraut. 2007, als der heutige Premierminister Li Keqiang Parteisekretär der Provinz Liaoning war, erzählte er amerikanischen Diplomaten, er traue den offiziellen Daten nicht. Er schaue sich stattdessen lieber drei Indikatoren an: den Energieverbrauch, die Kreditvergaben und die Eisenbahnfrachttonnen. Als Ende 2010 mit der Veröffentlichung der amerikanischen Botschaftsdepeschen Lis Misstrauen bekannt wurde, widmete das britische Wochenmagazin The Economist Li einen eigenen Keqiang-Index.

Inoffiziellen Statistiken zufolge könnte die Arbeitslosenquote bei 20 Prozent liegen

Bemerkenswert an den nun veröffentlichten Quartalszahlen ist, dass sich die chinesische Wirtschaft so rasch stabilisiert haben soll, obwohl die Arbeitslosenzahlen in den vergangenen Wochen dramatisch angestiegen sind. Ende April veröffentlichten Ökonomen eines chinesischen Wertpapierhändlers eine Studie, die mächtig Unruhe auslöste. 70 Millionen Chinesen könnten demnach womöglich ihre Beschäftigung verloren haben, schätzte die Firma Zhongtai Securities. Die Arbeitslosenquote betrüge demnach 20,5 Prozent. Vier Wochen später publizierten die auf China spezialisierten Analysten von Gavekal Dragonomics ähnliche Zahlen: 60 bis 100 Millionen Chinesen seien durch die Krise arbeitslos geworden, so der Befund. In der offiziellen Statistik klingt das deutlich moderater: Ein Anstieg von 5,5 auf sechs Prozent, vermeldeten die Behörden.

An den internationalen Märkten wurden die neuen Konjunkturdaten aus Peking positiv aufgenommen: "Die gute Nachricht: Die Erholung des chinesischen Bruttoinlandsprodukts ist beeindruckend und schlägt die Erwartungen", kommentierte Thomas Gitzel, Chefökonom der Liechtensteiner VP Bank. Die zeitgleich veröffentlichten Einzelhandelsdaten für den Juni zeigen jedoch, dass nicht alle Bereiche der Wirtschaft gleichermaßen nach oben ziehen. Die Einzelhandelsumsätze fielen im Juni im Vergleich zum Vorjahresmonat um 1,8 Prozent. "Die Corona-Krise kann also selbst das normalerweise wachstumsstarke China nicht so einfach abschütteln", sagte Gitzel.

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SZ vom 17.07.2020
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