China:Zum Wohle der Kinder

China: Bereits in der Grundschule bekommen viele Kinder in China Nachhilfeunterricht.

Bereits in der Grundschule bekommen viele Kinder in China Nachhilfeunterricht.

(Foto: STR/AFP)

Nachhilfe-Schulen in der Volksrepublik dürfen keine Gewinne mehr machen. An der Börse in Hongkong kommt es zu Kurseinbrüchen.

Von Christoph Giesen, Peking

Wer ein Klassenzimmer einer chinesischen Oberschule betritt, sieht auf fast jeden Schülerpult einen kleinen Abreißkalender liegen. Tag für Tag zählt er erbarmungslos herunter, bis zum "Gaokao", dem nationalen Schulexamen, das jedes Jahr Anfang Juni im ganzen Land abgehalten wird. Wer gut abschneidet, darf eine der Universitäten in Shanghai oder Peking besuchen und hat danach gute Aussichten, einen attraktiven Arbeitsplatz zu finden. Wer patzt, muss an eine kleinere Hochschule. Vom Gaokao hängen in China Karrieren ab.

Viele besorgte Eltern unternehmen alles Mögliche, damit die große Prüfung des Lebens gelingt: Am Vorabend bestellen sie ein Taxi, das auf keinen Fall die Ziffer vier im Nummernschild trägt (die Zahl und der Tod hören sich auf Chinesisch verblüffend ähnlich an). In der Vorbereitungszeit heuern sie Köche an, die besonders gesunde Gerichte kredenzen oder manche experimentieren gar mit Sauerstofftherapien, damit der Sohn oder die Tochter besser und auch länger lernt. Vor allem aber beginnt die Vorbereitung schon Jahre vorher.

Bereits in der Grundschule bekommen viele Kinder Nachhilfeunterricht. Ein Streber zu sein, ist in China nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, es wird sogar erwartet. Die Angebote der meisten privaten Bildungsträger richten sich nicht nur an schwächere Schüler, die in der Klasse nicht mitkommen, auch für die Besten eines Jahrgangs ist es völlig normal, Extra-Unterricht zu buchen, um so noch besser abschneiden zu können. Nach Zahlen der chinesischen Gesellschaft für Bildung nehmen mehr als mehr 75 Prozent des Abschlussjahrgangs außerschulische Unterstützung in Anspruch. Das Geschäft mit Nachhilfelehrern erwirtschaftet einen jährlichen Umsatz von umgerechnet mehr als 100 Milliarden Euro. Damit ist nun aber vorerst Schluss.

Akademische Angebote für Kinder unter sechs Jahren müssen komplett eingestellt werden

Am Wochenende verkündete die Regierung, dass Unternehmen, die Schullehrprogramme anbieten, künftig keine Gewinne mehr erzielen oder an die Börse gehen dürfen. Den Instituten wurde untersagt, Schüler am Samstag oder Sonntag zu unterrichten. Akademische Angebote für Kinder unter sechs Jahren müssen komplett eingestellt werden. Ziel sei es, die Belastung der Schüler durch übermäßige Hausaufgaben und Nachhilfe nach der Schule zu reduzieren. Auch solle unterbunden werden, dass Eltern viel Geld für die außerschulischen Angebote ausgeben müssen.

Für die betroffenen Firmen, denen Analysten bis vor Kurzem noch blendende Aussichten bescheinigt hatten, ging es am Montag steil bergab. New Oriental, eines der größten privaten Bildungsunternehmen in China, verlor an der Hongkonger Börse 75 Prozent an Wert. Für den chinesischen Internet-Konzern Tencent, der stark im Bildungssektor investiert, ging es ebenfalls deutlich abwärts. Der Hang-Seng-Index in Hongkong fiel am Montag um dreieinhalb Prozent, genauso wie der CSI-300-Index, der die Aktien der 300 größten börsennotierten Unternehmen vom chinesischen Festland beinhaltet.

Chinesische Staatsmedien frohlockten, dass dies ein Schritt sei, um für mehr Gerechtigkeit im Bildungssektor zu sorgen. Meist unerwähnt bleibt jedoch, dass ein entscheidender Grund für den radikalen Eingriff die verfehlte Familienpolitik ist. Nachdem die Behörden jahrzehntelang eine strikte Geburtenkontrolle umgesetzt hatten und die allermeisten Paare in der Volksrepublik seit 1980 nur ein Kind bekommen durften, sind seit diesem Sommer bis zu drei Kinder pro Familie erlaubt, ja sogar staatlich erwünscht, denn die Ein-Kind-Politik hat die chinesische Demografie mächtig durcheinander gebracht: Wie soll ein Rentensystem funktionieren, in dem es womöglich schon bald mehr Bezieher als Einzahler gibt? Das Problem ist jedoch: In den großen Städten können und wollen sich die meisten Familien keine drei Kinder leisten, weil die Bildungskosten so absurd hoch sind.

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