Süddeutsche Zeitung

Trotz Corona-Krise:China schrammt an der Rezession vorbei

Als womöglich einzige große Volkswirtschaft schrammt China dieses Jahr wohl an einer Rezession vorbei. Doch in den Zahlen verstecken sich auch Risiken.

Von Michael Bauchmüller und Christoph Giesen, Berlin, Peking

Die deutsche Wirtschaft redet über Asien, und wieder gibt es Grund zum Neid: "Die Staaten und Länder, die die Corona-Krise besonders konsequent bekämpft haben", sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), "kommen auch als erste wieder wirtschaftlich auf die Beine." Singapur, Südkorea, China. Deutschland müsse zeigen, dass es die Pandemie genauso effektiv bekämpfen könne.

Montagmorgen, die weite Welt des Internets: Deutsche Firmen haben sich zum Asien-Pazifik-Gipfel versammelt. Alle zwei Jahre findet das Klassentreffen der deutschen Wirtschaft in Asien statt, 2018 in Jakarta, 2016 traf man sich in Hongkong. Eigentlich war man in diesem Jahr in Tokio verabredet, dann kam Corona - und nun sieht man sich nur digital.

Die Zahlen aus China kommen da wie bestellt: Wachstum, inmitten der Pandemie. Das nationale Statistikamt in Peking hat sie in der Nacht auf Montag deutscher Zeit veröffentlicht, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt legte demnach im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 4,9 Prozent zu. Das ist zwar weniger, als viele Analysten erhofft hatten, dennoch reicht das Ergebnis aus, um den Einbruch im Frühjahr auszugleichen. Nach Angaben der Behörde wuchs die chinesische Wirtschaft in den ersten neun Monaten des Jahres um 0,7 Prozent. Von solchen Zahlen kann die deutsche Wirtschaft derzeit nur träumen: Im zweiten Quartal war die deutsche Wirtschaft um 10,1 Prozent geschrumpft. Es war das Quartal der ersten Corona-Welle, neuere Zahlen liegen noch nicht vor.

In China, wo das Virus zuerst ausgebrochen war, hatte die erste Welle ein Quartal vorher zugeschlagen. Auch dort war der Einbruch historisch: ein Minus von 6,8 Prozent. Zum ersten Mal seit Beginn der offiziellen Aufzeichnungen der Quartalszahlen im Jahr 1992 hatten die Statistiker eine schrumpfende Wirtschaft verzeichnet. Die Furcht war am Anfang dieses Jahres groß, dass die Volksrepublik 2020 zum ersten Mal seit 1976 in eine Rezession schlittern könnte. In jenem Jahr war gerade Staatsgründer Mao Zedong gestorben und die Kulturrevolution beendet worden.

An einer Rezession kommt China nun wohl vorbei - als eines der ganz wenigen Länder der Welt. Seit Monaten gibt es kaum noch neue Infektionen im Land, sodass sich das Leben und die Wirtschaftstätigkeiten wieder normalisiert haben. Die strengen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, etwa das Abriegeln von Millionenstädten, die strikte Isolation und die Einreisesperren, haben sich als effektiv erwiesen. Die Volksrepublik konnte das Virus schneller unter Kontrolle bringen als viele andere Staaten.

In Deutschland wächst der Wunsch, weniger abhängig von China zu sein

Ökonomen gehen davon aus, dass China die einzige große Volkswirtschaft sein wird, die das Jahr mit einem Wachstum abschließen kann. Die Erholung gehe schneller als erwartet voran, hieß es vergangene Woche in einer Prognose des Internationalen Währungsfonds. Demnach werde die chinesische Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 1,9 Prozent zulegen, das sind 0,9 Prozentpunkte mehr als in der Juni-Schätzung. Für 2021 rechnet der Währungsfonds unverändert mit einem Wachstum von 8,2 Prozent.

Damit wächst auch die ökonomische Macht Chinas - und in Deutschland der Wunsch nach weniger Abhängigkeit. Für die Asien-Pazifik-Konferenz hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) - wie so oft in diesen Tagen - vor eine Kamera im Kanzleramt gestellt und eine Grußbotschaft eingesprochen. "Wir wissen um die weiter wachsende globale Bedeutung der Märkte in der Asien-Pazifik-Region", sagt die Kanzlerin. "Und wir sehen, dass sich damit für unseren Außenhandel auch neue Perspektiven eröffnen." Das große Aber schiebt sie gleich hinterher. Denn die Hälfte dieses Handels treibe man mit China. Da sehe sie "viele Möglichkeiten der Diversifizierung", sagt Merkel.

Erst im September hatte die Bundesregierung neue "Indopazifik-Leitlinien" verabschiedet, eine grobe Richtschnur für die Beziehungen zum Fernen Osten. Auch sie mahnen zur Diversifizierung, andernfalls drohe "eine zu große Abhängigkeit von einem einzelnen Markt". Gespürt hatte das Deutschland gerade im Zusammenhang mit der Pandemie, etwa bei der Versorgung mit medizinischer Schutzausrüstung, oder bei Vorprodukten für die Industrie, die plötzlich ausfielen, weil fast alles inzwischen in China hergestellt wird. "Wir wollen natürlich unsere Lieferketten diversifizieren", sagt auch Wirtschaftsminister Altmaier. Das bedeute aber keine Abschottung, sondern mehr Handel und Zusammenarbeit. "Krisen lösen wir nur gemeinsam, nicht im Alleingang."

Der Treiber des Wachstums ist in China vor allem die Industrieproduktion

In der kommenden Woche steht die Herbstprognose der Bundesregierung an. Bislang geht sie davon aus, dass die deutsche Wirtschaft dieses Jahr wegen der Pandemie um 5,8 Prozent einbrechen und 2021 dann um 4,4 Prozent wachsen wird. In den Vereinigten Staaten wird die Wirtschaft laut Prognose 2020 um 4,3 Prozent schrumpfen, um dann im kommenden Jahr um 3,1 Prozent zu wachsen. Über allem aber schwebt weiterhin die Unsicherheit, wie sich eine zweite Welle auf die Wirtschaft auswirken könnte, die Unsicherheit ist groß. Was wieder zu Altmaiers Warnung führt: Je besser ein Staat das Virus in den Griff bekommt, desto weniger trifft es die Volkswirtschaft.

Doch auch die chinesischen Zahlen sind nicht nur eitel Sonnenschein. Der Dienstleistungssektor kommt erst allmählich wieder auf Touren. Viele Restaurants mussten in den vergangenen Monaten schließen, Kinos und Bars waren lange verrammelt, Millionen Wanderarbeiter verloren ihre Jobs. Der Treiber des Wachstums ist nun vor allem die Industrieproduktion. Um 5,8 Prozent legte diese laut Statistikbehörde im dritten Quartal zu. Wie viele der Produkte davon jedoch wirklich verkauft werden und was erst einmal eingelagert wird, ist nicht ganz klar. Die Autobranche frohlockt zwar, dass die Absatzzahlen trotz Corona über dem Plansoll liegen - ein guter Indikator sind diese Zahlen jedoch nicht. Die Furcht vor dem Virus hat viele Familien dazu bewogen, ein neues Auto anzuschaffen: besser im eigenen Wagen fahren, statt in Bus oder U-Bahn eine Ansteckung riskieren. Es sind allerdings häufig vorgezogene Investitionen. Wer heute ein Auto kauft, fährt es auch im kommenden Jahr. Danach könnte sich ein Post-Corona-Effekt in den chinesischen Bilanzen bemerkbar machen.

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