Es war Mike Wirth dann doch ein Anliegen, da etwas klarzustellen: „Der Umzug hat nichts mit Politik zu tun“, sagte der Chef des Energiekonzerns Chevron über die Verlegung des Firmensitzes von Kalifornien nach Texas: „Es geht darum, was das Beste für den Konzern ist, um konkurrenzfähig sein zu können.“ Das ist freilich die betriebswirtschaftliche Variante der Schlussmach-Floskel „Es liegt nicht an Dir, sondern an mir“. Der Satz wirkt umso unglaubwürdiger, als sich sowohl der Verlassene als auch der neue Liebhaber gemeldet haben mit klaren Botschaften. Danach gibt es sehr wohl politische Gründe für die Trennung und die neue Beziehung.
Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom wählte die trotzige „Stimmt, es liegt wirklich an dir“-Reaktion. Über Sprecher Alex Stack ließ er ausrichten, dass der Umzug nun wirklich niemanden überrasche – und der Bundesstaat an der Westküste womöglich besser dran sei ohne Chevron: „Wir sind stolz darauf, dass Kalifornien führend ist, Arbeitsplätze im Bereich erneuerbarer Energien zu schaffen, als Teil unserer vielfältigen, innovativen und lebhaften Wirtschaft.“ Sein texanischer Kollege Greg Abbott übernahm die Rolle des neuen Geliebten. „Willkommen daheim, Chevron“, schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst X: „Texas ist Deine wahre Heimat. Bohr’, Baby, bohr’.“
Mal abgesehen von der arg weirden Formulierung („Drill baby drill“): Abbott ist der Gouverneur, der Immigranten aus Südamerika als politisches Signal in Bussen in andere Bundesstaaten transportieren lässt und damit Personifizierung des Weird-Begriffs ist, der derzeit für republikanische Politiker sowie deren Aktionen und Aussagen die Runde in den USA macht: Chevron ist der zweitgrößte Öl-Konzern des Landes nach ExxonMobile – und tief in Kalifornien verwurzelt, bis 1984 hieß er sogar „Standard Oil Company of California“. Touristen in Los Angeles hören den Firmennamen oft, wenn sie einen der schönsten Radwege der Welt entlangfahren (am Strand von Redondo Beach nach Santa Monica) und wissen wollen, wem diese Ölraffinerie direkt an der Küste gehöre, die immer wieder für negative Schlagzeilen wegen Verschmutzung sorgt: Chevron.
„Damit ist das Ende der Fahnenstange erreicht“, findet Musk
Natürlich sorgt dieser Umzug für Aufregung – auch, weil er nicht der einzige spektakuläre aus Kalifornien ist: Hewlett Packard Enterprise etwa kündigte 2020 an, nach Texas umsiedeln zu wollen. Das war symbolisch, weil die Garage in Palo Alto, in der David Packard und Bill Hewlett die Firma 1939 gegründet hatten, als „Geburtsort des Silicon Valley“ gilt.
Die Tech-Giganten Oracle und Tesla haben ihre Firmensitze ebenfalls aus dem Silicon Valley nach Texas verlegt; erst kürzlich verkündete Tesla-Chef Elon Musk, dass er nach dem Elektroautobauer auch seine Raumfahrtfirma Space-X und X (früher Twitter) nach Texas umsiedeln wolle – und zwar, wie er betonte, sehr wohl aus politischen Gründen: Gouverneur Newsom hatte davor ein Gesetz unterzeichnet, das Schulen verbietet, die Eltern zu informieren, sollte deren Kind seine Geschlechteridentität ändern wollen und bitten, den Eltern nichts zu sagen. „Damit ist das Ende der Fahnenstange erreicht“, schrieb Musk auf X.
Die meisten Firmenumzüge in den USA sind politisch motiviert; so auch der von Chevron, da kann Wirth noch so oft beteuern, dass es nicht so sei. Am Beispiel von Chevron wird vielmehr deutlich, warum das so ist – und warum in den USA derzeit immer wieder vom „Exodus aus Kalifornien“ die Rede ist und von Texas als gelobtem Land für Konzerne. Denn dort gibt es im Gegensatz zu Kalifornien erstens keine bundesstaatliche Einkommens- oder Unternehmensteuer, und zweitens sind dort die Lebenshaltungskosten laut Council for Community and Economic Research um 50 Prozent niedriger als in Kalifornien.
Das Buhlen der Bundesstaaten um Firmen ist bisweilen skurril. Man erinnere sich an Amazon, das von September 2017 an ein regelrechtes Casting veranstaltete bei der Suche nach dem geeigneten Ort für sein „HQ2“. Der Konzern versprach Investitionen in Höhe von fünf Milliarden Dollar und insgesamt 50 000 neue Arbeitsplätze, forderte aber im Gegenzug Steuervergünstigungen, weniger Bürokratie und bessere Infrastruktur. Den Zuschlag erhielten die Bundesstaaten Virginia und New York.
Welche Politiker rühmen sich nicht gerne damit, dass bei ihnen investiert wird und Arbeitsplätze geschaffen werden? Die Kontrolle jedoch, ob die Konzerne auch ihren Teil der Deals einhalten, erfolgt oft erst Jahre später, meist nach der Amtszeit der Politiker. 2013 etwa hieß es, dass Chevron einen 50-Stockwerk-Wolkenkratzer in Downtown Houston errichten werde. Später stellte sich heraus: Im Vertrag mit dem Bundesstaat war keine Pflicht zum Bau vermerkt. Wer heute an der Adresse 1600 Louisiana St. vorbeischaut, sieht eine grüne Wiese.
„Wir befürworten eine Politik, die Preise niedrig hält und Investitionen fördert“
Apropos grün: Kalifornien hatte Chevron und vier andere Energiekonzerne (Exxon Mobil, Shell, BP, ConocoPhillips) im vergangenen Jahr verklagt. Der Vorwurf: Sie hätten jahrzehntelang die Gefahren für die Umwelt bei der Gewinnung fossiler Brennstoffe heruntergespielt. Kommentar von Chevron-Chef Wirth damals: „Klimawandel ist ein weltweites Problem – es braucht eine weltweit koordinierte Lösung und keine unsystematischen Rechtsstreitigkeiten, die nur Anwälten und Politikern nützen.“
Am Freitag sagte Wirth kurz nach der Behauptung, dass der Umzug nicht politisch motiviert sei: „Wir befürworten eine Politik, die Preise niedrig hält und Investitionen fördert. Die Politik Kaliforniens indes bewirkt das Gegenteil. Wir haben unsere Meinung klar zum Ausdruck gebracht und glauben nicht, dass diese Politik gut für die kalifornische Wirtschaft ist.“
Natürlich ist es völlig legitim, wenn Chevron seinen Firmensitz verlegt; zumal der Konzern das Gelände des derzeitigen Firmensitzes in San Ramon, etwa eine Autostunde östlich von San Francisco, bereits 2022 verkauft und danach gemietet hat. Derzeit arbeiten nur noch 2000 Leute dort, im texanischen Houston sind bereits 7000 Leute angestellt.
Es scheint aber auch nicht so, als wäre Kalifornien geschockt oder traurig darüber, verlassen worden zu sein. Und vielleicht ist dies ein günstiger Zeitpunkt dafür festzustellen, dass beim Firmen-Exodus wie in Beziehungen gilt: Nicht immer sind Verlassene die Verlierer. Die Chevron-Aktie hat seit Bekanntgabe des Umzugs mehr als sechs Prozent ihres Wertes verloren.