Chemnitzer Entscheidung:"Ein Streikverbot ist grotesk"

Der Arbeitsrechtler Thomas Dieterich äußert sich zur Chemnitzer Entscheidung. Die gerichtliche Zensur einer Kampftaktik hält er für unangebracht.

Ralf Husemann

SZ: Herr Dieterich, wieso kann ein Arbeitsgericht einfach einen Streik untersagen? Verdi-Chef Frank Bsirske sprach gar - trotz seiner Warnung vor einer Zersplitterung der Gewerkschaften - von "Klassenjustiz". Zu Recht?

Chemnitzer Entscheidung: Der Arbeitsrechtler Thomas Dieterich: Nur das Bundesarbeitsgericht kann entscheiden, ob für die Bahn generell Einschränkungen des Streikrechts gelten sollen.

Der Arbeitsrechtler Thomas Dieterich: Nur das Bundesarbeitsgericht kann entscheiden, ob für die Bahn generell Einschränkungen des Streikrechts gelten sollen.

(Foto: Foto: dpa)

Dieterich: "Einfach" geht das gar nicht. Ich kenne die Begründung des Chemnitzer Arbeitsgerichts nicht, aber möglicherweise hat es schwerwiegende Beeinträchtigungen des Gemeinwohls befürchtet. Das müsste aber sehr konkret glaubhaft gemacht und in der Rechtsfolge eingegrenzt werden. Ich stimme Herrn Bsirske insoweit zu, dass es keine gerichtliche Zensur einer Kampftaktik geben darf. Schon gar nicht pauschal.

SZ: Ein Streik soll ja wohl zur Durchsetzung seiner Ziele auch unangenehm sein, sonst wäre er wenig effektiv.

Dieterich: Natürlich, wie soll es anders gehen. Die Bahn ist einfach ein Arbeitgeber und ein Tarifpartner und ist als solcher zu behandeln.

SZ: Grenzt das nicht an Willkür, wenn Juristen darüber befinden, was für die Allgemeinheit noch erträglich ist und was nicht?

Dieterich: Gerichte brauchen rechtliche Maßstäbe. Nur wenn eine Streiktaktik missbräuchlich verwendet wird oder zerstörerisch auf das Unternehmen wirkt oder Dritte in Gefahr bringt, dann kann ein darauf bezogenes Verbot ausgesprochen werden. Missbräuchlich wäre es zum Beispiel, wenn ein ICE auf offener Strecke oder in Hintertupfing streikbedingt angehalten wird. Die Schadenshöhe allein kann als Rechtfertigung für ein Streikverbot aber nicht dienen.

SZ: Ist zu erwarten, dass es nun einreißt, dass Gerichte den Ablauf von Arbeitskämpfen bestimmen?

Dieterich: Schon im August hatte das Arbeitsgericht Nürnberg ein totales Streikverbot für die Bahn ausgesprochen. Das war grotesk. Ich glaube aber dennoch nicht, dass diese Entscheidungen schon als typisch gelten können. Übrigens könnte nur das Bundesarbeitsgericht entscheiden, ob für die Bahn generell Einschränkungen des Streikrechts gelten sollen.

SZ: Sie haben sich in einem Beitrag in der SZ für das Recht auf Egoismus ausgesprochen. Dafür sind Sie auch gescholten worden.

Dieterich: Egoismus ist keine lobenswerte Haltung, und die Arbeiterbewegung ist durch Solidarität gekennzeichnet. Aber ich wollte das Freiheitsrecht betonen - der Staat hat kein Recht, hier moralisch zu bewerten. Bei der Diskussion um Unternehmerfreiheit wird das ja immer stark herausgestellt - warum sollte es nicht für Gewerkschaften gelten.

Thomas Dieterich, 73, war von 1994 bis 1999 Präsident des Bundesarbeitsgerichts. Zuvor gehörte er dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts an.

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