Chemiebranche:Neue Formellehre

Die Digitalisierung verändert auch die Chemieindustrie. BASF hat sich einen leistungsstarken Superrechner angeschafft. Neue Konkurrenz entsteht den Unternehmen in Handelsplattformen.

Von Elisabeth Dostert, Ludwigshafen

Quriosity ist heute etwas lauter. Es gibt viel zu rechnen. In den schwarzen Schränken blinken grüne Lämpchen wie Irrlichter. Quriosity heißt, fast liebevoll, der Superrechner des Chemiekonzerns BASF. Der Name ist eine Mischung aus Curiosity, dem englischen Wort für Neugier, und dem Buchstaben "Q" für das lateinische Wort Quantum. "Und "Q" heißt ja auch der Technikchef in der britischen Agentenserie James Bond, erläutert Stephan Schenk, Teamleiter der Abteilung High Performance Computing & Databases von BASF. "1,75 Billiarden Rechnungen pro Sekunde kann Quriosity rechnen. Das entspricht der Leistung von 50 000 Notebooks."

"Die Digitalisierung verändert auch Forschung und Entwicklung", sagt Catharina Wohlmuth. Die promovierte Chemikerin ist in der Entwicklung von BASF für Home Care zuständig, das sind Inhaltsstoffe für Wasch- und Reinigungsmitteln für Privathaushalte und die Industrie. "Das sind", sagt sie, "komplexe Produkte". Namen einzelner Kunden darf Wohlmuth nicht nennen, aber BASF arbeite weltweit mit vielen Herstellern zusammen.

Manchmal geht es um die Entwicklung eines komplett neuen Produktes, oft aber auch nur um den Austausch eines einzelnen Inhaltsstoffes, etwa eines Tensids, um die Herstellung eines Waschmittels preiswerter oder umweltverträglicher zu machen. "Das lässt sich rechnen, das erledigt Qurosity", sagt die Wissenschaftlerin.

Das läuft so: An einer Basis-Formulierung, das ist eine Art Basis-Rezept für ein Waschmittel, werden einzelne Parameter getestet, etwa die Wirkung neuer Inhaltsstoffe auf die häufigsten Schmutzarten, zum Beispiel Tonerde oder Eiweiße. Es gibt noch mehr Variablen: Wasserhärte, Waschtemperatur, verschiedene Stoffarten und die Dosierung. Jeder Bestandteil lässt sich als Formel darstellen. "Im Supercomputer lassen sich viele Parameter parallel testen", sagt Wohlmuth. Es sind ein paar Millionen Rechnungen allein für die Veränderung eines Parameters. "Quriosity braucht zwei, drei Tage und lieferte dann ein paar Gigabyte an Daten", erläutert Wohlmuth: "Im Labor bräuchten wir für entsprechende Experimente deutlich länger." Die Dateien werden dann von erfahrenen Mitarbeitern analysiert. "Forschung und Entwicklung sind heute Teamarbeit", sagt Wohlmuth.

Autolack soll zugleich möglichst abriebfest und elastisch sein

"Das beste Produkt im errechneten Ranking muss nicht das Beste in der Realität sein", so Experte Schenk: "Menschen sind nicht perfekt, deshalb sind auch die Rechenmodelle nicht perfekt." Eine Auswahl der errechneten Produkte wird dann im Labor getestet. "Jeder Kunde hat eigene Wünsche", erzählt Wohlmuth: "Wenn wir für ein Waschmittel 100 Eigenschaften rechnen, legt er auf fünf besonderen Wert, bei 95 ist der Kunde zufrieden, wenn seine Anforderungen hinreichend erfüllt werden." Das gilt für alle Produktkategorien.

Schenk nennt ein weiteres Beispiel: Autolacke. Es gibt Eigenschaften, die sich widersprechen. Ein Lack soll eine hohe Abriebfestigkeit haben, also vergleichsweise hart sein, aber auch so flexibel, dass ein Steinschlag keinen großen Schaden anrichte und sich leicht reparieren lasse. "Quriosity liefert Optionen, an die wir früher gar nicht gedacht haben", erläutert Schenk: "Der Rechner macht die Entwicklung systematischer und schneller."

Mitarbeiter in aller Welt haben Zugriff auf Quriosity. Er ist, behauptet BASF, weltweit die größte derartige Anlage in einem privaten börsennotierten Chemiekonzern. "Auf den Rechner haben wir hier sehnsüchtig gewartet", sagt Schenk. Sein Name ist das Ergebnis einer weltweiten Mitarbeiter-Umfrage, schließlich soll die Maschine irgendwie dazugehören, denn sie verändert auch die Art und Weise, wie Menschen künftig forschen, entwickeln und arbeiten. Neun Mitarbeiter schlugen den Namen Quriosity vor.

Mit digitalen Zwillingen können Prozesse am Computer simuliert werden

"Quriosity ist eigentlich mehr als ein Rechner", sagt Schenk. In den schwarzen Schränken, aufgebaut in zwei parallelen Reihen, stecken viele einzelne Rechenmodule, die alle miteinander vernetzt sind. Bunte Kabel führen über postgelbe Schächte zu den Schränken mit den Servern in der Mitte. Schenk steht zwischen den beiden Reihen und breitet die Arme aus, so dass er mit den Händen die Türen links und rechts berühren kann. Es ist eine zärtliche Geste. Der promovierte Chemiker läuft durch den Gang, öffnet Türen und zieht Schübe heraus. Die Schränke am Ende der Reihen mit den insgesamt 1300 Festplatten für die Sicherung der Daten wiegen jeweils 1,5 Tonnen. Den Lärm machen aber nicht die Rechner, sondern die Kühlung. Gekühlt wird mit Wasser, 60 Liter laufen pro Minute durch die Schläuche an der Rückwand der Schränke. Seit gut einem Jahr ist Qurosity nun in Betrieb. Damals stand er unter den schnellsten Computern der Welt auf Platz 65, Ende 2018 rangierte er auf Platz 115.

QURIOSITY âÄ" der Supercomputer der BASF / QURIOSITY âÄ" BASFâÄÖs supercomputer

Der Superrechner Quriosity hilft dem Chemiekonzern unter anderem bei der Simulation neuer Produktionsprozesse.

(Foto: oh)

Die Vernetzung von Maschinen und Produkten, riesige Datenmengen und Algorithmen als Basis für Entscheidungen, verändern die Chemieindustrie, so wie alle Industrien. "Die Chemieindustrie ist nicht immun", sagt Götz Erhardt, er ist beim Beratungsunternehmen Accenture für diese Industrie zuständig. Aber in anderen Branchen, etwa im Handel oder in der Konsumgüterindustrie, auch bei Banken und Versicherungen, sei die Lage in Folge der Digitalisierung "sehr viel prekärer".

Ein Gesamturteil über den Stand in der Chemieindustrie ist schwierig. Die Branche sei nicht homogen, sagt Erhardt. Es komme ein wenig auf den Markt und die Größe des Unternehmens an. Zum Teil zwängen Disruptionen in anderen Branchen die Chemieindustrie, ihre Prozesse und Geschäftsmodelle zu digitalisieren. Erhardt nennt Beispiele. Ein Auto etwa, bestehe heute zu großen Teilen aus Kunststoffen. Die Mobilität verändere sich durch die Elektrifizierung. Die Chemieindustrie als Zulieferer müsse auf solche Entwicklungen eingehen. Mehr und mehr Kunststoffe müssen und sollen künftig recycelt werden, die Industrie müsse Modelle für eine Kreislaufwirtschaft entwickeln.

Die Chemieindustrie habe das Thema Digitalisierung seit gut zehn Jahren auf dem Radar, sagt Wolfgang Falter vom Beratungsunternehmen Deloitte. Wie in anderen Industriezweigen auch, seien alle Unternehmensbereiche betroffen. Die größten "digitalen Erfolge" erzielten die Unternehmen bislang in der Produktion und in der Lieferkette. Traditionell sei die Chemieindustrie sehr gut darin, Prozesse zu verbessern, sagt Falter. Die Digitalisierung ermögliche es den Unternehmen noch selektiver, konstanter und kostengünstiger zu produzieren und zu liefern.

Ein Beispiel sind "digitale Zwillinge", also die virtuelle Nachbildung der realen Anlagen und ihrer Umgebung. Sie ermöglichen es zum Beispiel, Prozesse zu simulieren. Damit könnten die Kosten für die Einführung neuer Produkte gesenkt, Anlagen effizienter gefahren und vorausschauend gewartet werden, heißt es in einer im Herbst 2017 veröffentlichten, gemeinsamen Studie von Deloitte und dem Verband der Chemischen Industrie (VCI).

Schwieriger gestalten sich die Beziehungen zu den Kunden. "Die alten Beziehungen kehren sich um", sagt Falter. "Bislang war es B2C oder B2B, jetzt ist alles C2B." Das heißt, der Kunde suche online nach dem passenden Produkt und Lieferanten, er erwarte digitale Dienstleistungen, Geschäfte und Service sollen online abgewickelt werden. "Wer nicht online sichtbar ist, hat es schwer neue Kunden zu erreichen", so Falter. Und die bestehenden Kunden werden von neuen Marktteilnehmern und Plattformen umworben. Bislang würden mehr als 80 Prozent der Chemikalien und Materialien direkt vom Hersteller an den Kunden geliefert. "Aber die Plattformökonomie macht auch vor der Chemieindustrie nicht halt", sagt Berater Falter.

QURIOSITY âÄ" der Supercomputer der BASF/ QURIOSITY âÄ" BASFâÄÖs supercomputer

Die Supercomputer-Exerten Marcel Michael (links) und Stephan Schenk von BASF bei der Inbetriebnahme von Quuriosity. Die einzelnen Komponenten von Quriosity sind mit schnellen Leitungen (Bild unten) untereinander verbunden.

(Foto: oh)

Ein Beispiel, das auch in der VCI-Studie genannt wird, ist Molbase, eine Art Amazon für chemische Produkte. Die nach eigenen Angaben 2013 von Chinesen gegründet Plattform behauptet von sich, mit 30 000 Lieferanten und 50 000 Käufern die weltweit größte E-Commerce-Plattform für mehr als neun Millionen Basischemikalien zu sein. Aber Molbase ist nicht allein. Start-ups wie Go Buy Chem und Kemgo wollen mitmischen. Selbst auf Plattformen wie Alibaba oder Amazon werde mit Chemikalien gehandelt, sagt Berater Erhardt. So bietet etwa der deutsche Konzern Covestro über einen Flagship-Store auf Alibaba Polymerprodukte an.

Berater Falter hofft, dass die Nutzung von Quantencomputern und intelligenten Algorithmen die Innovationskraft der Unternehmen steigert. Die Lösung komplexer Probleme erfordere künftig mehr denn je gemischte Teams aus verschiedenen Disziplinen. Der Anteil von IT-Experten werde absolut und relativ steigen. Bislang werde die Expertise aber zu wenig genutzt. Falter hat allerdings große Barrieren zwischen operativen Einheiten und IT-Abteilungen ausgemacht: "Wir erleben digitale Elfenbeintürme, die in coolem Ambiente die Ergebnisse der operativen Einheiten verfrühstücken. Und es gibt digitale Lösungen, wo man sich wundert, wie man damit je Geld verdienen will."

Falter hat Zweifel, ob sich durch die Digitalisierung Entwicklungsprozesse wirklich verkürzen. Erst einmal steige die Zahl der Versuche pro Zeiteinheit stark an. "Das ist so, als ob sie auf einen Lotto-Schein nicht mehr mit der Hand sechs Kästchen ankreuzen, sonder ein Zufallsgenerator ein paar Hundert Tipp-Zettel in der Stunde ausfüllt." Bislang habe sich nur die Effizienz verbessert, aber nicht die Effektivität, es gibt nicht deutlich mehr Erfolge bei der Suche nach neuen Chemikalien oder Arzneimitteln. "Die Trefferquote ist enttäuschend", sagt Falter. Viele Konzerne verwenden mehr Ehrgeiz darauf, komplementäre Gebiete oder Geschäftsmodelle zu entwickeln, wie etwa digitalisierte Landwirtschaft oder personalisierte Medizin. "Aber was nutzt einem die beste Lotto-Maschine, wenn nicht mehr Lotto, sondern Mensch-ärgere-Dich-nicht gespielt wird", so Falter.

Viele Chemiefirmen arbeiten mit Start-ups zusammen

Mit der Entwicklung neuer digitaler Geschäftsmodelle tue sich die Chemieindustrie am schwersten, urteilt Berater Erhardt. Viele arbeiten mit Start-ups zusammen und haben einen eigenen Risikokapitalgeber. Im November investierte BASF gemeinsam mit dem Software-Unternehmen Materialise in das texanische Start-up Essentium, um 3D-Druck-Technologien zu entwickeln. Wenn künftig Produkte und vielleicht ganze Anlagen gedruckt werden, wollen Chemiekonzerne zumindest die richtigen Pulver und Formulierungen dafür liefern. Auch der Düsseldorfer Konzern Evonik hat seit Jahren einen eigenen Risikokapitalgeber, der direkt in Start-ups investiert oder in Geldgeber wie den Gründerfonds Ruhr.

Der Chemie-und Pharmakonzern Bayer hat sich mit der Übernahme von Monsanto auch neue Geschäftsmodelle einverleibt. Fast eine Milliarde Dollar zahlte der US-Konzern vor einigen Jahren für The Climate Corporation. Das 2006 von zwei früheren Google-Mitarbeitern gegründete Unternehmen ist eine digitale Plattform, es analysiert Wetter-, Boden- und Felddaten, auf deren Basis die Bauern höhere Erträge erwirtschaften sollen.

Disruptive Innovationen gab es schon früher in der Industrie. Anfang des 20. Jahrhundert entwickelten die Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch ein Verfahren zur industriellen Synthese von Ammoniak. Es war nicht nur revolutionär für die Chemieindustrie, sondern auch für die Landwirtschaft, denn Ammoniak ist Basis vieler Düngemittel. "Das war ein einzelnes Verfahren", sagt BASF-Experte Schenk: "Die Digitalisierung wird die gesamte Chemieindustrie revolutionieren."

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