Süddeutsche Zeitung

Tarifrunde:Bis zu 15,6 Prozent mehr für Chemiearbeiter

Wegen Inflation und Krise gehen manche Arbeitgeber und Gewerkschaften wild aufeinander los. Die Chemie- und Pharmaindustrie dagegen verständigt sich geräuschlos auf einen Abschluss. Das sind die wichtigsten Punkte.

Von Alexander Hagelüken und Benedikt Peters

Drei lange Tage und Nächte hat es gedauert. Und man sieht das den Verhandlungsführern durchaus an, als sie am Dienstag vor die Öffentlichkeit treten. Aber sie haben es tatsächlich geschafft: Inmitten von Energiekrise und hoher Inflation einigen sich die Gewerkschaft IG BCE und die Arbeitgeber auf einen Abschluss für 580 000 Beschäftigte in der Chemie- und Pharmabranche. Und das in einer Situation, "die ich in 40 Jahren noch nicht erlebt habe", wie Gewerkschafter Ralf Sikorski sagt. "Aber es geht um Lösungen. Unsere Leute wollen Ergebnisse, keine Konflikte".

Die Beschäftigten erhalten dauerhafte Lohnerhöhungen von je 3,25 Prozent im Januar 2023 und ein Jahr später. Arbeitgeber dürfen die Erhöhung aus wirtschaftlichen Gründen drei Monate verzögern. Außerdem bekommen die Beschäftigten zwei Einmalzahlungen von jeweils 1500 Euro spätestens im Januar 2023 und ein Jahr später, diese dürfen die Arbeitgeber nicht verschieben. Weil Beschäftigte mit wenig Verdienst von Sonderzahlungen überdurchschnittlich stark profitieren, fällt die Entlastung für sie prozentual höher aus als für Durchschnittsverdiener. Arbeitnehmer der untersten Lohngruppe bekommen so 15,6 Prozent mehr Geld. Im Durchschnitt liegt die Entlastung bei knapp 13 Prozent. Damit werde die Inflation annähernd ausgeglichen.

Es geht auch ohne Knall

Auf die Einmalzahlungen müssen nach dem Angebot der Bundesregierung keine Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden. Auszubildende bekommen neben der Lohnerhöhung Einmalzahlungen von 500 Euro. Der Tarifvertrag läuft 20 Monate bis Ende Juni 2024. Hans Oberschulte, BASF-Personalchef und Verhandlungsführer der Arbeitgeber, sprach von einem "ausgewogenen Abschluss, der Firmen Planungssicherheit gibt".

Die Chemie- und Pharmaindustrie einigt sich damit geräuschlos auf einen Tarifvertrag, während die allgemeine Krisenstimmung die Fronten in anderen Branchen sichtlich verhärtet hat. In der Metall- und Elektroindustrie bewegt sich trotz vieler Verhandlungstermine seit Wochen nichts. Arbeitgeberchef Stefan Wolf forderte dort zuletzt eine Nullrunde. Die IG Metall keilt zurück und droht offen mit Warnstreiks von Ende Oktober an. Auch in ein anderen großen Tarifrunde in diesem Winter gelten Streiks als wahrscheinlich: Im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen sorgten Verdi und Beamtenbund mit einer zweistelligen Forderung von 10,5 Prozent für Aufsehen.

In der Chemiebranche hingegen herrscht auch in Krisenzeiten ein konstruktiver Ton, wie die Sozialpartner schon im April zeigten. Trotz des kurz zurückliegenden Ausbruchs des Ukraine-Kriegs, Inflation und Unsicherheit bei den Betrieben einigten sie sich auf einen Brückenabschluss. Die Beschäftigten erhielten eine Einmalzahlung von 1400 Euro, was die Härten der Inflation erst einmal abfederte. Die Firmen mussten dafür keine dauerhaften Lohnerhöhungen verkraften - und wer schlecht dastand, konnte die Einmalzahlung reduzieren. Die Einigung soll Modell gestanden haben für die steuer- und sozialabgabenfreien Zahlungen von bis zu 3000 Euro an Beschäftigte, die Bundeskanzler Olaf Scholz nun Arbeitgebern ermöglicht. Mit ihrem nun erzielten Abschluss ist die Chemie die erste Branche, die das Scholz'sche Instrument in Anspruch nimmt und voll ausschöpft.

In der Chemie trafen sich Delegationen beider Seiten immer wieder. Sie bereiteten im Stillen den Boden dafür, sich nun zu einigen. "Wir haben uns nicht auf gegensätzliche Standpunkte versteift", sagt Oberschulte. IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis nannte den Tarifabschluss einen Beitrag zum sozialen Frieden. "Wir haben geliefert, die anderen sind noch dran", sagte er mit einem Seitenhieb auf die anderen Tarifrunden.

Der Gewerkschaft war dabei besonders wichtig, anders als im April eine dauerhafte Gehaltserhöhung für die Beschäftigten zu vereinbaren. Ihr Ziel, für die unteren Lohnstufen einen Festbetrag zu vereinbaren, konnte sie nicht durchsetzen. Die Arbeitgeber wiederum drangen darauf, die Kostenbelastungen angesichts der Energiekrise nicht zu groß werden zu lassen. Die Branche ist in Sorge, da sie besonders energieintensiv ist, auf sie entfallen 15 Prozent des deutschen Gasverbrauchs. Sie muss auf Dauer mit gestiegenen Gaspreisen kalkulieren. Den Arbeitgebern war deshalb wichtig, nicht ausschließlich auf dauerhafte Lohnsteigerungen zu setzen, sondern diese nur im Paket mit einer Sonderzahlung zu ermöglichen, durch die die dauerhafte Lohnsteigerung geringer ausfallen kann. Das ist ihnen gelungen. Bei wirtschaftlichen Problemen können sie aber nicht so stark vom Tarifvertrag abweichen wie gewünscht.

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