Inmitten von Inflation und großer Unsicherheit durch den Krieg in der Ukraine haben sich Arbeitgeber und die Gewerkschaft IGBCE in der Chemie- und Pharmabranche auf einen wegweisenden Tarifabschluss geeinigt. Um die enormen Preissteigerungen abzufedern, erhalten die 580 000 Tarifbeschäftigten je eine Einmalzahlung von 1400 Euro. Für Not leidende Betriebe gilt eine Ausnahme, sie können die Einmalzahlung auf 1000 Euro reduzieren. Auszubildende bekommen 500 Euro. Aus Rücksicht auf die wirtschaftliche Unsicherheit, die Krieg und Energiekrise für die Firmen bedeuten, verzichtet die IGBCE außerdem auf ihre ursprüngliche Forderung, die Löhne dauerhaft zu erhöhen. Darüber soll wieder im Oktober verhandelt werden, wenn die Laufzeit des Tarifabschlusses nach sieben Monaten endet.
Die Bedeutung des Abschlusses geht weit über die Branche hinaus. Es handelt sich um die erste große Tarifrunde, die nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine stattfindet - und damit in Zeiten steigender Energiepreise und einer Inflation, die so hoch ist wie seit 40 Jahren nicht mehr. Zuletzt lag sie bei 7,3 Prozent. Die Frage war, wie Gewerkschaft und Arbeitgeber darauf reagieren würden.

Chemieindustrie:Alarm in Ludwigshafen
Noch fließt das Gas, aber was wäre, wenn? Der Chemiekonzern BASF bereitet sich schon einmal vor, auch darauf, dass gar kein Gas mehr kommt. Das würden die Menschen auch im Alltag spüren.
Die Tarifparteien hatte der Kriegsausbruch in eine schwierige Lage gebracht. Einerseits war beiden Seiten klar, dass die Beschäftigten angesichts der heftigen Preissteigerungen einen Ausgleich erwarten, also mehr Geld. Andererseits führt die Lage in der Ukraine in den Unternehmen zu enormer Unsicherheit. In vielen Firmen tagen in diesen Wochen die Krisenstäbe und spielen Szenarien durch: Was, wenn die Energie noch teurer wird? Was, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin doch noch den Gashahn zudreht oder die Bundesregierung einen Importstopp verfügt?
Die Chemiebranche träfe das besonders hart, denn sie braucht viel Energie. Auf sie entfallen 15 Prozent des deutschen Gasverbrauchs. Außerdem benötigt die Branche das Gas auch als Rohstoff. Sie stellt daraus Zwischenprodukte wie etwa Ammoniak oder Methanol her, die zum Beispiel in Dünger oder Arzneimitteln und Kunststoffen enthalten sind. Würde das Gas in Deutschland knapp, dann könnte die Produktion in den Chemiefirmen zum Erliegen kommen - denn es gilt als sicher, dass, bevor die Menschen hierzulande im kommenden Herbst nicht mehr heizen könnten, zuerst die Industrie vom Netz müsste.
Viele Betriebe könnte das in die Krise stürzen, befürchten die Arbeitgeber, auch wenn das Geschäftsjahr 2021 für die meisten gut war und derzeit niemand weiß, ob die düsteren Szenarien wirklich eintreffen. Die Chemiegewerkschaft IGBCE erkannte das an und folgte damit der konstruktiven Tradition, die Tarifverhandlungen in der Branche auszeichnet. "In dieser Zeit großer Unsicherheit für Beschäftigte wie Unternehmen mussten wir eine Lösung finden, die Inflationslinderung mit Beschäftigungssicherung verbindet", sagte ihr Chef Michael Vassiliadis zum Ergebnis. "Mit diesem Kompromiss werden die Beschäftigten sofort entlastet und die wirtschaftliche Entwicklung engmaschig bewertet." Die Arbeitgeber sehen es ähnlich: "Mit der Krisen-Brücke verschaffen wir Unternehmen und Beschäftigten eine dringend benötigte Atempause", sagte ihr Verhandlungsführer Hans Oberschulte. "Das ist die richtige Antwort auf die maximale Unsicherheit, die wir seit Putins Invasion erleben."
Gewerkschaft will noch 2022 höhere Löhne
Klar ist jedoch auch, dass die IGBCE mit dem Abschluss nur als Übergangslösung zufrieden sein kann. Die Inflation könnte in einigen Monaten zwar wieder ein wenig sinken, soll aber Prognosen zufolge insgesamt hoch bleiben. Das schürt die Erwartungen der Beschäftigten, auf deren Mitgliedsbeiträge die IGBCE angewiesen ist. Ihr Chef Vassiliadis betonte daher mit Blick auf die nächsten Verhandlungen im Oktober: "Unser Ziel bleibt die dauerhafte Steigerung der Entgelte noch in diesem Jahr."
Von der nun vereinbarten Einmalzahlung profitierten die Beschäftigten mit weniger Geld überdurchschnittlich, betont die Gewerkschaft, und das sei so auch richtig: Sie seien es schließlich, die am stärksten unter den Preisschüben litten. Umgerechnet auf das durchschnittliche Jahresgehalt in der Branche entspricht die Einmalzahlung von 1400 Euro nach Angaben der IGBCE einem Zuschlag von 5,3 Prozent. Sie kann sich also auch im Hinblick auf die aktuelle Inflation sehen lassen.
Gut ansehen werden sich den Abschluss auch die Verhandler anderer Gewerkschaften und Arbeitgeber. Im Herbst beginnen die Runden in der Metall- und Elektroindustrie und im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Dann geht es um die Gehälter von etwa sieben Millionen Arbeitnehmern.