Süddeutsche Zeitung

Brexit:Keine Lösungen, viel Palaver

Theresa May versucht verzweifelt, einen vermurksten Brexit noch zu verhindern. Doch mit taktischen Spielchen wird sie schwere Schäden für ihr Land kaum abwenden können.

Kommentar von Björn Finke, London

Genau 84 sogenannte technical notices will die britische Regierung in den kommenden Wochen veröffentlichen, die ersten 25 dieser technischen Bekanntmachungen präsentierte sie bereits an diesem Donnerstag. Auf wenigen Seiten legt jeder dieser Ratgeber dar, wie sich die Bürger oder eine bestimmte Branche auf einen No-Deal-Brexit vorbereiten können und was die Regierung ihrerseits tut. No Deal, kein Vertrag: Dieses Horrorszenario tritt ein, wenn sich London und Brüssel nicht auf ein Austrittsabkommen einigen. Dann verlassen die Briten in gut sieben Monaten die EU, ohne dass eine Übergangsphase den Sprung ins Ungewisse abfedern würde. Es gäbe keinen Handelsvertrag, Zölle würden eingeführt, es wäre unklar, ob Flugzeuge weiter von Großbritannien aufs Festland düsen dürfen.

Nun ist es immer lobenswert, sich auf mögliches Unbill vorzubereiten. Aber das Ansinnen erinnert schon sehr an die naiven Bemühungen aus dem Kalten Krieg, als Regierungen der Bevölkerung praktische Tipps für das Überleben eines Atomkriegs gaben. Etwa sich unter dem Tisch zu verstecken.

Manches Unheil wird eben nicht viel erträglicher dadurch, dass man sich vorbereitet hat. Trotzdem macht die konservative Regierung einiges Bohei um ihre knappen Ratgeber. Dieser Wirbel dient vor allem dazu, eine Botschaft an zwei Adressaten zu schicken. Zum einen an unnachgiebige Brexit-Fans in der Konservativen Partei. Diesen Rechtgläubigen gehen die Zugeständnisse zu weit, die Premierministerin Theresa May Brüssel gemacht hat. Sie fordern, dass London härter auftritt. Und wenn die EU nicht einlenkt, müsse das stolze Königreich bereit sein, die Gespräche abzubrechen und ohne Abkommen Good-bye zu sagen.

Mit dem Palaver über No-Deal-Vorbereitungen wollen May und Raab diesen Austritts-Enthusiasten zeigen, dass sie den Verhandlungstisch tatsächlich verlassen würden, falls nötig. Die gleiche Botschaft soll der zweite Adressat vernehmen: ihr Gesprächspartner in Brüssel, EU-Chefunterhändler Michel Barnier. Brüssel hat Mitgliedstaaten und Firmen ebenfalls gemahnt, sich auf einen Austritt ohne Abkommen vorzubereiten.

So ein vermurkster Brexit wäre politisch und wirtschaftlich eine Katastrophe - für die EU, vor allem aber für Großbritannien. Die anderen europäischen Staaten sind der wichtigste Exportmarkt für die Unternehmer Ihrer Majestät. Exakt 44,3 Prozent der Ausfuhren von Gütern und Dienstleistungen gingen dorthin im vorigen Jahr. Ohne Übergangsphase und Handelsvertrag würden vom 30. März an die Regeln der Welthandelsorganisation WTO gelten. Und die sehen etwa Zölle von zehn Prozent auf Fahrzeuge vor. Autofabriken im Königreich können diese Zusatzkosten kaum auffangen. Investitionen und Jobs wären bedroht. Auch in Deutschland würden die Autobranche und viele andere Industrien leiden, wenn Handel über den Ärmelkanal teurer würde.

In nur sieben Monaten müsste alles vorbereitet werden

Außerdem müssten in den Häfen, in Calais und Dover, oder an der inneririschen Grenze Zöllner die Ladung von Lastwagen prüfen. Es dürfte unmöglich sein, bis März die nötigen Anlagen aufzubauen und genug Grenzbeamte einzustellen. Kontrollen würden auch zu Staus führen, der stete Nachschub an Zulieferteilen für Fabriken und Lebensmitteln für Supermärkte wäre gefährdet. Die Banken in London, Europas wichtigstem Finanzplatz, dürften viele Geschäfte nicht mehr länger auf dem Festland anbieten. Zig Tausend Jobs würden in die EU verlagert, noch mehr als ohnehin geplant.

All das würde die Wirtschaft massiv belasten, würde Jobs und Steuereinnahmen kosten. Die EU würde einen hohen und Großbritannien einen dramatisch hohen Preis für einen Chaos-Brexit zahlen.

Dass über so einen ungeordneten Austritt überhaupt nachgedacht werden muss, ist vor allem Schuld der britischen Regierung. Premier May hat wertvolle Zeit vertändelt. Erst im Juli, zwei Jahre nach dem EU-Referendum, hat sie eine Vision für die künftigen Wirtschaftsbeziehungen vorgelegt, die halbwegs realistisch ist und Chancen hat, von Brüssel akzeptiert zu werden, wenn auch sicher mit Änderungen. Allerdings ist unklar, ob die schwache Regierungschefin für dieses Modell eine Mehrheit im britischen Parlament findet. Sie hat erst in diesem Sommer damit begonnen, dafür zu werben, damit begonnen, schwierige Überzeugungsarbeit zu leisten. Scheitert sie, droht wirklich ein Chaos-Brexit. 84 Papiere mit Ratschlägen zur Vorbereitung werden den Briten dann nicht viel helfen.

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SZ vom 23.08.2018/vd
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