Süddeutsche Zeitung

Chaos am Himmel:"Da ist die Kommission schwerhörig"

Viele Flugzeuge starten verspätet - aber wer ist schuld an den Problemen? Viele Airlines zeigen auf die Fluglotsen. Doch die wehren sich.

Von Jens Flottau, Frankfurt

Zwei deutsche Städtenamen sind derzeit Reizwörter in der Luftverkehrsbranche: Zum einen der aus Pilotensicht überfüllte Sektor Würzburg, den nicht nur viele Frankfurter Ab- und Anflüge durchqueren müssen, sondern auch Überflüge von Osteuropa in den Westen, vom Norden in den Süden, und umgekehrt. Zum anderen Karlsruhe, denn dort befindet sich ein Kontrollzentrum der Deutschen Flugsicherung (DFS). Es verursacht derzeit wegen des hohen Aufkommens besonders viele Verspätungen. Im Chaos-Sommer 2018 haben die Fluggesellschaften die Flugsicherung als einen Hauptschuldigen ausgemacht. Schließlich hat sich statistisch die von den Lotsen verursachte Verspätung von 1,1 Minute pro Flug im Jahr 2017 auf 2,6 Minuten im Juni 2018 weit mehr als verdoppelt. Und die Folgeverspätungen - Flugzeuge, die nicht rechtzeitig für den nächsten Einsatz bereitstehen - sind innerhalb eines Jahres um durchschnittlich zwei Minuten auf nun insgesamt acht Minuten angewachsen. Dass die Airlines selbst ebenfalls deutlich mehr Verzögerungen verursacht haben, die auch im Lauf des Tages in der Regel nicht mehr aufgeholt werden, lassen sie gern einmal in der öffentlichen Debatte unter den Tisch fallen. Die von ihnen selbst bei der europäischen Flugsicherungsbehörde Eurocontrol gemeldeten Daten zeigen: Knapp die Hälfte der Störungen geht auf das Konto der Airlines, die Flugsicherung ist für rund 20 Prozent verantwortlich. Insgesamt waren 55 Prozent aller Abflüge im Juni verspätet.

Es gibt nicht genug Lotsen. 120 werden pro Jahr neu ausgebildet. Mehr gehe nicht

Dennoch mahnt DFS-Chef Klaus-Dieter Scheurle dringend Reformen an. "Eines Tages werden wir mit dem heutigen System an eine Grenze stoßen", sagt Scheurle der SZ. "Ob das 2030 sein wird oder 2040, kann man nicht sagen. Aber es ist klar, dass es so auf Dauer nicht funktionieren wird." Die Flugsicherungsbehörde Eurocontrol warnt in einer aktuellen Studie, dass selbst bei nur 1,9 Prozent jährlichem Wachstum im Jahr 2040 das Problem immens wäre: 160 Millionen Passagiere könnten dann nicht fliegen, wenn nicht Flughäfen massiv ausgebaut werden und die Flugsicherung umgebaut wird. Scheurles DFS kämpft sowohl mit kurzfristigen Engpässen als auch mit Strukturen, die ihr aus seiner Sicht das Leben schwer machen.

Kurzfristig fehlen Lotsen. Die DFS-Schulungen sind mit 120 Absolventen pro Jahr derzeit zwar voll, doch die Ausbildung ist lang. "Das ist das Maximum dessen, was unsere Akademie hergibt. Bislang haben wir alle Kurse füllen können, aber das ist kein Selbstläufer. Wir müssen schon Werbung machen, denn gute Leute sind überall gefragt", so Scheurle. Dass es überhaupt einen Engpass gibt, dafür macht der DFS-Chef die Europäische Kommission mitverantwortlich. Personalbedarf, Budgets und Gebühren der vielen Flugsicherungen in Europa werden auf der Basis eines Fünf-Jahres-Plans festgelegt. Dummerweise hat die Kommission das starke Wachstum insbesondere der letzten beiden Jahre nicht vorhergesehen. "2018 liegen wir 8,7 Prozent über der Prognose, und wenn das so weitergeht, werden es im nächsten Jahr zehn Prozent sein," sagt Scheurle. "Wenn Sie samstags morgens zum Bäcker gehen, dann hat der Aushilfen eingeplant, weil er weiß, dass die Nachfrage besonders groß ist. Wenn dann aber auch noch unerwartet ein Bus mit 50 Leuten vorfährt, dann kann er nicht schnell weitere Aushilfen besorgen; es gibt Schlangen. So ist das derzeit in der Luftfahrt auch." Scheurle hält von der langfristigen Planung gar nichts. "Es ist noch nie das eingetroffen, was man geglaubt hat." Deswegen müsse die Prognose auf ein, maximal aber drei Jahre beschränkt werden, um mit besseren Zahlen entscheiden zu können. "Aber da ist die Kommission schwerhörig", kritisiert der DFS-Chef.

Flugsicherung, Fluggesellschaften und Flughäfen arbeiten laut Scheurle im Bundesverband der deutschen Luftverkehrsindustrie an vielen Einzelprojekten, um die Lage zu entschärfen. "Ab Herbst werden wir Verbesserungen sehen", prognostiziert der 63-Jährige, der derzeit auch Präsident des Bundesverbands der Luftverkehrswirtschaft ist. Die Flugsicherung etwa erlaubt innerdeutschen Flügen nur noch in Ausnahmefällen, in den sogenannten oberen Luftraum (oberhalb von etwa 8000 Metern) zu steigen. Dadurch soll der Sektor entlastet werden, der durch das rasante Wachstum in einigen Nachbarländern Deutschlands und die vielen daraus resultierenden Überflüge besonders verstopft ist. Die Entscheidung habe sich beim Nadelöhr in der Region Würzburg schon positiv ausgewirkt. Außerdem dürfen die Airlines nicht mehr ohne Weiteres von den Flugplänen abweichen, die sie jeweils am Vortag mitteilen müssen.

Im Winter dürfte sich die Lage tatsächlich wieder entspannen. Doch das wird vor allem daran liegen, dass die Fluggesellschaften dann generell weniger fliegen als im Sommer. Ob die kleinen Initiativen der Beteiligten wirklich etwas dazu beitragen, die Lage zu verbessern, wird sich tatsächlich erst im Sommer 2019 herausstellen, sollte sich der Boom im Privatreisesegment weiter fortsetzen.

Dass sich das starre System, in dem jeder Staat seine eigene Flugsicherung hat, auf Dauer halten lässt, bezweifelt der DFS-Chef. "Es ist außerordentlich wichtig, dass die Fragmentierung überwunden wird, aber am Ende wird auch nicht eine einzige Flugsicherung übrig bleiben", so Scheurle. Vielmehr sieht er "vielleicht drei große, die sich in Konkurrenz zueinander um Ausschreibungen bewerben". Allerdings fehle es heute "an allem, was man dazu bräuchte", vor allem am politischen Willen, die zerstückelte Infrastruktur zusammenzufassen. Doch dies bedeute, dass Länder einen Teil ihrer Souveränität aufgeben müssten. "Ich hoffe, dass irgendwann durch den Verkehrszuwachs der Druck so groß wird, dass man dem Thema nicht mehr ausweichen kann", sagt der DFS-Chef.

Die DFS will dennoch ihr internationales Geschäft ausbauen. In London-Gatwick und Edinburgh betreibt sie die Flughafen-Tower, weitere sollen folgen. Einsparungen erhofft sich die Flugsicherung durch sogenannte "Remote Towers". So werden bald An- und Abflüge am Flughafen Saarbrücken von einem Zentrum in Leipzig kontrolliert, innerhalb der nächsten drei Jahre sollen die Flughäfen Erfurt und Dresden hinzukommen.

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Quelle:
SZ vom 21.08.2018
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