Die Chagossianer dachten, die Welt habe sie vergessen. Aber jetzt haben sie Grund zu feiern. Ihre Inseln im Indischen Ozean, faktisch eine der letzten Kolonien Großbritanniens, werden wieder Mauritius zugesprochen. Die kleine Gruppe Chagossianer, die vor mehr als 50 Jahren von der britischen Marine nach Mauritius und auf die Seychellen zwangsumgesiedelt wurde, kann bald zurück in ihre Heimat. Das derzeit praktisch unbewohnte Chagos-Archipel liegt weit entfernt von den Kontinenten, zwischen Mauritius und den Malediven.
Nun müssen die Chagossianer noch an ihren Schatz kommen. Den haben andere in ihrem Namen angehäuft. Es geht um mindestens 50 Millionen Dollar und einen Teil des Internets.
Chagos verfügt über eine Ressource, die man nicht anfassen kann, die aber viel Geld wert ist. Zum Britischen Territorium im Indischen Ozean, wie das Archipel offiziell noch heißt, gehört eine sogenannte Top-Level-Domain. Die Domain-Endung lautet .io (analog zum .de von Websites aus Deutschland).
Die Endungen sind eine Ordnungsfunktion des Internets. Websites, die auf .io enden, werden im Namen von Chagos betrieben – ihre Betreiber können aber überall auf der Welt sitzen. Die wichtigste Programmierer-Plattform Github verwendet die Endung ebenso wie Opensea.io, ein Marktplatz für virtuelle Kunst. „io“ steht für „Indischer Ozean“.
Wie es der Zufall will, stehen die Buchstaben auch für eine Grundidee der Informatik: „Input/Output“ – das Zusammenspiel der Eingabe von Informationen in einen Computer und dem, was der Computer dann ausspuckt. Deshalb lieben Tech-Unternehmer die Endung. Auch Marco Rubio, Senator in Florida und Bewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur 2016, nutze die Website rub.io. Spaßvogel.
Nicht nur Staaten können seit den Achtzigern Top-Level-Domains erhalten, auch Territorien, die gar nicht unabhängig sind. Bekannt ist .tv, jene Endung, die Fernsehsender und Video-Websites lieben. Mit ihr bestreitet die Südseeinsel Tuvalu einen substanziellen Teil ihrer Staatseinnahmen. Oder Tokelau, eine Insel, die zu Neuseeland gehört: Dort tauchte 2003 ein niederländischer Unternehmer mit seinem Boot auf und installierte Internetempfang per Satellit. Dafür durfte er die .tk-Websites kommerziell ausbeuten. Die Insel-Endungen werden von Hunderttausenden Domains verwendet, deren Betreiber dafür zahlen.
Diskussionen über die Ausbeutung der Insel-Domainendungen ziehen sich durch die Geschichte des Internets. So waren die Bewohner der Weihnachtsinsel sauer, weil goatse.cx – einst die berüchtigtste Schockfoto-Website des Internets – in ihrem Domain-Namen betrieben wurde. 2004 schaltete die Domain-Verwaltung ihrer Insel die Website ab.
Die Chagossianer beschweren sich
Den Chagossianern geht es um Wiedergutmachung. Auf den Diebstahl der Inseln durch die Besatzungsmacht sei digitale Ausbeutung gefolgt, heißt es in einer Forderung der Chagossianer an die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und Rechte der Völker. Auch bei der OECD haben sie sich beschwert. Verantwortlich seien Großbritannien und mehrere Unternehmen, die seit 1997 die Domain verantworten. Nach mehreren Firmenverkäufen verfügt heute das US-Unternehmen Identity Digital USA über die Endung.
Die Chagossianer beziffern den Wert von .io auf 50 Millionen US-Dollar. Jedes Jahr werfen die Gebühren der Webseitenbetreiber demnach 10 Millionen US-Dollar ab.
Auch ziehe der bisher halbseidene Status des Territoriums eine unseriöse Branche an, in der viel Geld verdient wird. Zu den Nutzern zählten „Tausende Krypto-Plattformen, die die nicht existente kommerzielle Regulierung im Britischen Territorium ausnutzen und große Mengen unregulierter und unversteuerter Einnahmen und Handel in Höhe von Milliarden Dollar täglich erzeugten“. Vor allem sogenannte Krypto-Mixer enden auf .io. Diese Websites versuchen, die Herkunft digitalen Geldes zu verschleiern – was Kriminelle anzieht. Die .io-Domain sei „das weltgrößte Krypto-Offshore-Zentrum“ geworden, heißt es in der Forderung an die Afrikanische Kommission.
Jonathan Levy, Anwalt der Chagossianer, schreibt: Großbritannien behaupte zu Unrecht, es habe mit der Endung nichts zu tun. Den Vertriebenen stünden Gebühren zu, die ihnen für die Domain versprochen worden seien.
Nun läuft die Zeit davon. Anfang des Monats haben Großbritannien und Mauritius sich – auf Druck des Internationalen Gerichtshofs – geeinigt. Nur die von den USA gepachtete Militärbasis auf der Insel Diego Garcia, die Teil des britischen Territoriums ist, darf weiter bestehen.
Sobald die Inseln an Mauritius übergehen, hört das Britische Territorium im Indischen Ozean auf, zu existieren. Dann muss es eigentlich aus der offiziellen Domain-Liste fliegen. Auf die stützt sich nämlich die Icann. Die Organisation ist für die Verwaltung der Internetadressen zuständig.
Dann beginnt eine Frist von fünf Jahren, in der die Webseiten umständlich auf andere Endungen „umziehen“ müssen. „Am Ende dieses Prozesses würden die Webseiten nicht mehr funktionieren“, schreibt die Icann auf Anfrage. So geschah es bei den Endungen .yu (Jugoslawien) und .zr, als Zaire sich in Demokratische Republik Kongo umbenannte.
Allerdings gab es schon einmal eine Ausnahmeregelung für einen Staat, der verschwand. Bis heute ist .su aktiv. Die Endung bekam die Sowjetunion kurz vor ihrem Ende zugeteilt.